„Fast niemand hat das Wort ,Ehre‘ benutzt“

„Migration, Islam, Maskulinität“: eine internationale Tagung in Oldenburg fragte nach Männlichkeitsentwürfen muslimischer Migranten. Im Interview warnte die Pädagogin Susanne Spindler davor, die Rolle der Herkunftskultur überzubewerten

Susanne Spindler lehrt Pädagogik an der Universität Köln und ist Referentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW.

Frau Spindler, warum stoßen Sie sich an der These, dass Gewalt von jungen Migranten in ihrer Herkunftskultur begründet ist?

Susanne Spindler: Ich finde das nicht grundsätzlich falsch. Aber man muss wohl eher von einer weltweit verbreiteten Macho-Männlichkeit sprechen. Diese Transitkultur, in der die Migranten leben, festzulegen auf etwas, was in ihrer Herkunftskultur gelebt wird, finde ich sehr problematisch. In den Interviews haben wir kein einheitliches Muster gefunden. Religion etwa spielte nur in einer Biografie eine Rolle. Fast niemand hat das Wort „Ehre“ benutzt.

Sind die kulturspezifischen Erklärungen, die Sie Christian Pfeiffer und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen vorwerfen, ein Hindernis im Umgang mit jungen Migranten?

Wenn wir die Erklärung verengen auf Familie und Kultur, nehmen wir uns viele Möglichkeiten, pädagogisch an anderen Stellen anzusetzen und nachzudenken: Wie müsste Schule geändert werden, damit sich die Jugendlichen über Bildung aus problematischen Lagen lösen können? Gleichzeitig spricht diese Argumentation unsere Gesellschaft damit von patriarchalen Strukturen frei.

Sie haben kriminelle Biografien von Migranten untersucht. Gibt es dabei typische Strukturen?

Das fängt damit an, in bestimmten Stadtteilen aufzuwachsen. Ein Jugendlicher hat es so erlebt, dass man ihn schon in der ersten Klasse als gefährlich eingestuft hat aufgrund der Straße, in der er wohnte. Die jungen Männer nehmen die Zuschreibungen an: „Ich war auf so ’ner Scheiß-Ausländerschule.“ Weil viele in beengten Verhältnissen wohnen, halten sie sich im öffentlichen Raum auf. Entsprechend sind ihre Straftaten auch öffentlich sichtbar.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Die Jugendlichen erleben die gesellschaftliche Situation der Eltern als prekär. Sie wollen sich von der sozialen Position ihrer Eltern absetzen.

Das tun sie durch übersteigerte Männlichkeit?

Genau. Sie wollen sich einem starken Verbund anschließen. Körperlichkeit ist wichtig: extremer Kampfsport, Bodybuilding, Tätowierungen, Kampfhunde. In einer Karriere im Drogengeschäft finden sie einen Ersatz für gesellschaftlichen Erfolg.

Was geschieht, wenn sie ihre Strafe verbüßt haben?

Die meisten unserer Interviewpartner wurden abgeschoben. Das ist eine Verbannung wie im Mittelalter.

Sie veranstalten auch Workshops für Lehrer. Stoßen Sie auf Verständnis?

Die Lehrer sind oft viel weiter als das System. Sie würden gerne Dinge ändern. Aber sie scheitern an der Drei- oder besser Viergliedrigkeit des Schulsystems. Die Haupt- und Lernbehinderten-Schule ist ein Abstellgleis.

Die Oldenburger Tagung wollte WissenschaftlerInnen zusammenführen, die an der Schnittstelle von Migration, Islam und Gender forschen. Ist das gelungen?

Auf jeden Fall. Das war die erste große Tagung zu dem Thema in Deutschland. Von der Forschung aus dem Nahen Osten oder Osteuropa hätte man sonst wenig erfahren.

Die Männlichkeitsforschung scheint weitgehend in Frauenhand zu sein. Wie verhalten sich Männer dazu?

Inzwischen ist es akzeptiert, dass sowohl Frauen als auch Männer in dem Bereich forschen. Wo wäre die Männlichkeitsforschung auch ohne die Frauenforschung? Wenn das Wort „Männlichkeit“ im Seminartitel auftaucht, kommen wenigstens ein paar männliche Studenten. Wenn da „Geschlecht“ steht, sitzen vielleicht zwei Männer im Seminar.

Fanden Ihre Interviewpartner es nicht befremdlich, von einer Frau über Männlichkeit befragt zu werden?

Nein, die waren eher geschmeichelt, dass sich überhaupt jemand für sie interessiert. INTERVIEW: ANNEDORE BEELTE