Es fehlt an Schmerz

Die große Gemeinschaftsausstellung „Schmerz“ des Berliner Medizinhistorischen Museums und des Hamburger Bahnhofs verbindet Wissenschaft und Kunst. Schwerpunkte sind der Umgang mit fremdem Schmerz sowie seine Wahrnehmung

„Schmerz“ geht das Projekt zu bescheiden an. Es fehlt an Kunst, an Medizin und Forschung – und es fehlt vor allem an Gegenwart

VON BRIGITTE WERNEBURG

Passend am Gründonnerstag eröffnete in Berlin die Ausstellung „Schmerz“. Schließlich ist der Schmerz, den sie verhandelt, christlich-abendländischer Natur. Der Umgang anderer Kulturen mit dem Schmerz und ihre philosophischen, religiösen und künstlerischen Vorstellungen spielen keine Rolle. Der Ausschluss ist nachvollziehbar, denn der interdisziplinäre Ansatz des Gemeinschaftsprojekts von Hamburger Bahnhof und Medizinhistorischem Museum der Charité stellt schon genügend Anforderungen an die Veranstalter. Doch zwingt sie das, „Schmerz“ gleich als eine Art Spezialanfertigung der Osterliturgie zu vermarkten?

Nun gut, man muss das fromme Spiel des Eventmarketing nicht mitspielen. Nach Ostern jedenfalls verfängt die Koketterie mit der Rechtgläubigkeit nicht mehr. Nach Ostern ist es kaum noch frivol, Peter-Klaus Schuster, den Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, beim Vorwort zu nehmen und mit ihm zu sagen, was „Schmerz“ sonst noch vermarkten will: zunächst einmal „die städtische Landschaft rings um den Humboldthafen“, deren sichtliche Entwicklung den Hamburger Bahnhof in absehbarer Zukunft aus seiner marginalen in eine zentrale Lage rücken wird; sodann „Berlin als großartigen Kultur- und Wissenschaftsstandort“; und last but not least das „zukünftige Humboldt-Forum auf dem Schlossplatz“ als einen Ort interdisziplinärer Erkundung der Künste und Kulturen der außereuropäischen Welt. Er wird von den Staatlichen Museen und der Humboldt-Universität gemeinsam betrieben werden. „Schmerz“ stellt dafür wohl eine Art Probelauf dar.

Nach Ostern verliert auch die experimentelle Kreuzigung des amerikanischen Gerichtsmediziners Frederick T. Zugibes an unfreiwillig blasphemischer Kraft. Zugibes untersucht die Zugkräfte, denen Jesus am Kreuz ausgesetzt war. Seit 1948 hängt er seine Assistenten an ein eigens gebautes Kreuz, das nun im Hamburger Bahnhof zu bestaunen ist. Wie sich die körperliche Belastung in Schmerz übersetzt, ist bestimmt seinem 2005 publizierten Forschungsbericht zu entnehmen, der neben besonderen Manschetten zum Aufhängen und anderen Hilfskonstruktionen zum Zwecke des Messens gut verwahrt und unzugänglich in einer Vitrine liegt. Betrachtet man die Installation als Paradebeispiel für die Überführung christlich-religiös motivierter Fragen in Wissenschaft, kann sie nur Warnung vor der interdisziplinären Grenzverletzung sein. Am Ende stimmt die skurrile Versuchsanordnung vor allem melancholisch.

Tatsächlich sieht Peter-Klaus Schuster in „Schmerz“ die Fortsetzung der gleichfalls interdisziplinär angelegten Melancholie-Ausstellung der Neuen Nationalgalerie im letzten Frühjahr. Und wirklich: Das geringe Ding, an dem sich die Idee der Schau entzündete, ist, wie Annemarie Hürlimann von der an „Schmerz“ beteiligten „Praxis für Ausstellung und Theorie“ bekannte, ein melancholisches Objekt par excellence. Es handelt sich um einen Beißstab aus Frankreich, der noch Ende des 19. Jahrhunderts bei narkosefreien Operationen verhinderte, dass sich die Patienten in ihrer Pein die Zunge abbissen. Reliquiengleich ist er zu Beginn des Rundgangs im Hamburger Bahnhof in einer Vitrine aufgebahrt.

Der Umgang mit fremdem Schmerz wie seine Wahrnehmung bei sich selbst bilden dort die zwei Ausstellungsschwerpunkte, während es im rund 400 Meter entfernten Medizinhistorischen Museum um die historische Veränderung der Vorstellungen über den Schmerz und seine Natur wie um den Ausdruck von Schmerz geht. Worum eigentlich handelt es sich, wenn wir Schmerzen empfinden? Dass der Schmerz als chemisch-elektrischer Vorgang auf Zellebene beobachtbar ist, wie im Haus am Charitéplatz gezeigt, beantwortet die Frage nicht. Ist er nur Symptom eines körperlichen Defekts wie lange angenommen? Oder ist er, vor allem in seiner chronischen Form, auch eine eigene Krankheit, wovon man heute ausgeht? Dann stellt das therapeutische Pain Management womöglich fest, dass „nicht der Schmerz unser Leben, sondern unser Leben den Schmerz unerträglich macht“, wie die Schmerzmediziner Andreas Kopf und Rainer Sabatowski im Begleitbuch zur Ausstellung schreiben. Selbst die Frage nach dem Erdulden der Schmerzen, die Wissenschaft und Religion am stärksten scheidet, wird neu verhandelt. Nicht nur, weil sich die Hoffnung auf jederzeitige Schmerzfreiheit bislang nicht erfüllte, erscheint es heute fraglich, ob ihre Erfüllung wirklich wünschenswert ist. Diese Skepsis mindert allerdings nicht die Bedeutung des wissenschaftlichen Siegs über den Schmerz, sei es bei Operationen und in der Palliativmedizin. Ihn konnte auch eine Kirche nicht verhindern, die sich auf das Bibelwort „unter Schmerzen sollst du gebären“ berief, um der Frau im Kindbett die Narkose zu verweigern.

Die Erfahrung des Schmerzes ist für die christliche Heilsvorstellung grundlegend, die Vollendung seines Erlösungswerks bedingt den grauenvollen, schmählichen Tod Jesu. Daher ist die Passion Christi das abendländisch-christliche Urbild einer Sinngebung des Schmerzes, die uns von allen unabweisbaren Zweifeln definitiv erlöst. Belegt die früheste Darstellung des gekreuzigten Heilands in Berlin, die aus dem Salzburgischen stammende Tafel „Die heilige Dreieinigkeit als Gnadenstuhl“ aus dem Jahr 1470 noch vollkommenes Vertrauen in diese große Erzählung, zeigt deren Fortschreiben in der bildenden Kunst, wie das Vertrauen zunehmend brüchig wird. Zuletzt richtet es sich nicht mehr auf das dargestellte Motiv, sondern auf die Kunst selbst und deren negative Erlöserkraft. Aus diesem Grund traut sich Francis Bacon noch 1965 eine „Crucifikation“ zu malen – gegen jede Heilserwartung, der das Unheil des 20. Jahrhunderts endgültig den Garaus gemacht hat: Dem bis aufs Fleisch Gequälten steht der Folterknecht mit der Hakenkreuzbinde gegenüber, flankiert von zwei bürgerlichen Anzugträgern, die in ihrem Betstuhl eher gut unterhalten wirken, als beschämt oder mitleidsvoll.

Auch Joseph Beuys, auf den man in der pathologisch-anatomischen Sammlung des Medizinhistorischen Museums trifft, ist kein ungläubiger Thomas. Beuys’ Forderung, „Zeige deine Wunde“ – 1975 auf einen schlichten Holzstuhl geschrieben – erfolgt in der Gewissheit, dass diese existiert. Staunende Ungläubigkeit jedenfalls ruft im 20. und 21. Jahrhundert nur die Behauptung körperlicher und seelischer Unversehrtheit, nie geprüfter Gesundheit und nie erlittener Schmerzen hervor. Vis-à-vis dem Präparat eines Herzinfarkts bedeutet Wohlbefinden das wahre Sakrileg. Dass in heutiger Zeit niemand ohne Verletzung davonkommt, führte bei Beuys zur moralischen Gewissheit, dass das Leiden zu zeigen und produktiv zu machen sei. Selbstredend erzeugt dieser Anspruch neuen Leidensdruck. Zeige deine Narbe – und bekenne. Auch deine Lust am Schmerz. Nicht jedes Piercing, jede Sacrification und jedes Tattoo verrät seinen existenziellen oder nur frivol-modischen Entstehungsgrund. Man muss schon nachfragen wie Valeska Grisebach, in deren Video „Narben“ (2007) Menschen über ihre ungewollten oder gewollten Narben und den in ihnen erinnerten Schmerz Auskunft geben.

Notgedrungen ist diese Auskunft persönlich, von idiosynkratischen bis esoterisch-unverständlichen Momenten durchsetzt. Zu einem klärenden Bild jedenfalls fügen sich die Erzählungen nicht. Das gilt auch für „Schmerz“ insgesamt. Anders als in der Melancholie-Ausstellung fügen sich die Exponate nicht zu einem übergreifenden Panorama des Schmerzes als Gegenstand von Wissenschaft, Kunst und Religion. Mit rund 100 Exponaten geht „Schmerz“ das Projekt einfach zu bescheiden an.

Es fehlt an Kunst, an Medizin und Forschung – und es fehlt vor allem an Gegenwart. Schließlich bezeichnet der Begriff Schmerz – anders als der der Melancholie – kein schon historisch gewordenes Konzept. Es fehlen die zeitgenössische Verzweiflung und die ganz radikalen Antworten der Gegenwartskunst. Man denke an Hannah Wilkes späte „Intra-Venus“-Performance, in der – unter der Bedingungen des Lymphdrüsenkrebses – das unausweichliche physische Martyrium die frühe Konzeptkunst vom Körper als Quelle der Verführung noch immer aufscheinen ließ. Oder man denke an Bob Flanagans sadomasochistische Rebellion gegen die Mukoviszidose, eine Lungenkrankheit, bei der man langsam an Verschleimung erstickt. Der selbst herbeigeführte Schmerz setzte bei ihm genügend Adrenalin frei, um Kraft zum Husten zu haben. 1994 lag der Supermasochist bei einer Ausstellung des New Museum monatelang als lebende Skulptur im Krankenbett. Bruce Nauman ist eben nicht die Allzweckwaffe, mit der sich alles abdecken lässt.

Ja, es fehlt an Schmerz bei „Schmerz“. Nicht zuletzt fehlt der Schmerz der Tiere, den sie in den Forschungslabors erleiden, damit er uns erspart bleibt. Indem „Schmerz“ nur die medizinischen Marterinstrumente auspackt, deren Zweck nachvollziehbar ist, das Uterusmesser, die Kopfsäge oder der Harnröhrendehner, muss sie nicht vom Schmerz sprechen und vom Leid, das die Medizin in ihrer langen Geschichte selbst verursacht hat – auch bei ihrer Suche nach Linderung von Schmerz. Von dieser Passionsgeschichte zu schweigen, ist nach Ostern nicht mehr hinnehmbar.

„Schmerz“. Gemeinschaftsausstellung des Berliner Medizinhistorischen Museums und des Hamburger Bahnhofs. Bis 5. August. Begleitbuch (DuMont Verlag, Köln) 28 €