Der Blick hält stand

Josef Haslinger schreibt in „Phi Phi Island. Ein Bericht“ darüber, wie er und seine Familie den Tsunami an der Westküste Thailands überlebten

VON OLIVER PFOHLMANN

Beginnen wir mit dem Zufall. Und dem korpulenten Mann auf dem Schiff, das die Haslingers nach Phi Phi Island bringt. Der Mann schläft in einem Liegestuhl; mit seiner Digitalkamera filmt Josef Haslinger in einer langen Nahaufnahme das reglose Gesicht des Fremden. Als er ihn das nächste Mal sieht, zwei Tage später, liegt der Mann neben weiteren Leichen in der Hotelrezeption, in seinem Bauch klafft eine Wunde. Haslinger, seine Frau Edith und die beiden Kinder, die 18-jährigen Zwillinge Sophie und Elias, haben die Katastrophe mit knapper Not überlebt.

Wäre dieses Buch Fiktion, würde man den schlafenden Mitreisenden sofort als bedeutungsträchtigen Repräsentanten des Todes identifizieren. So aber ist das makabre Wiedersehen nur eine Laune des Schicksals. Reiner Zufall ist auch die Tatsache, dass die Kamera Monate später aus Schlamm und Schutt des zerstörten Inselparadieses an der Westküste Thailands geborgen und nach Österreich geschickt wird, wo sich das Digitalband noch abspielen lässt. Jetzt erst, im Rückblick, kann Haslinger die Verbindung herstellen zwischen der Leiche, deren Anblick sich in sein Gedächtnis gebrannt hat, und dem längst vergessenen Fremden auf dem Schiff.

Von den Überlebenden anderer Katastrophen ist bekannt, wie sehr die Frage, warum ausgerechnet man selbst verschont geblieben ist, quält. Diese Frage ist, neben dem gut freudianischen Versuch der Traumabewältigung, der Grund dafür, warum Haslinger nur ein Jahr später auf die Insel zurückkehrte und warum er am Ende doch ein Buch über seine Tsunami-Erlebnisse schrieb. „wir waren zu viert gekommen und sind zu viert wieder abgereist“, heißt es gleich zu Beginn lakonisch. Denn eben dies ist das Rätsel, sprach doch, bei einer Todesrate von fünfzig Prozent unter den Hotelgästen, alle Wahrscheinlichkeit gegen diesen Ausgang.

Daher Haslingers Akribie, das Beharren auf noch so banal scheinende Details in seiner Rekonstruktion. Daher bei seiner Rückkehr auf die Insel seine Suche nach den „teilchen in jenem glückspuzzle (…), das uns überleben ließ“, während hunderte andere Menschen ertranken. Von den beiden Bungalows, die sich zufällig gegenüberstanden, sodass die Eltern den Kindern noch zurufen konnten, wegzurennen, ist natürlich nichts mehr übrig. Aber da ist noch die Treppe zu dem Verwaltungsgebäude, auf der sich am 26. Dezember 2004 die Menschen in ihrer Panik drängten. Hier wurden die Haslingers von der Welle eingeholt. Die Treppe ist in der Realität viel schmaler, als es sich die Erinnerung ausmalte. Da ist auch das Stromkabel, an dem sich der Autor, der sich unter Wasser seines Endes schon sicher war, festklammern konnte, während die vorbeischießenden Glassplitter und Blechteile Haut und Sehnen durchschnitten. Das Kabel hängt in zweieinhalb Meter Höhe.

Auch das Flachdach des Hotels gibt es noch. Nachdem die Familie endlich wieder zusammengefunden hatte, lebte sie dort zwei Tage lang zusammen mit anderen Überlebenden im Schatten eines Wasserspeichers und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Ein Jahr später weisen auf der Insel Schilder eine „tsunami evacuation route“ aus; unmittelbar nach der Katastrophe, abgeschnitten von der Außenwelt, kursieren nur Vermutungen, auch hält man das Ganze zunächst für ein lokales Ereignis.

Haslingers eindrucksvoller Bericht zeigt, wie schwer es dem zivilisationsverwöhnten Verstand fällt, auf das Aussetzen der Ordnung zu reagieren. Kurz bevor er unter Wasser gerät, ärgert sich der Sohn darüber, dass die Schwester schon wieder flinker im Klettern ist als er. Nachdem sie sich auf einen Fassadenvorsprung retten können, sagt Haslingers Frau, „ich muss dann zurückgehen … und mir neue sachen zum anziehen holen“, während sich ihr Mann bemüht, die hellen Hotelwände nicht mit seinem Blut zu beschmutzen. Man macht sich noch etwas vor, glaubt, die Normalität kehre gleich wieder zurück, vermag noch nicht die Dimension des Geschehens zu begreifen. Das zeigt sich auch im Umgang mit fremdem Eigentum: Während weniger sensible Naturen gleich anfangen, fremde Hotelzimmer aufzubrechen, dauert es lange, bis auch die Haslingers eine herrenlose Reisetasche „plündern“.

Der Versuch, das Geschehene im Schreiben zu begreifen, führt zu einer fortgesetzten Verquickung der Zeitebenen. Immer hektischer springt der traumatisierte Erzähler zwischen der Ankunft im sorglosen Urlaubsparadies Weihnachten 2004, der Katastrophe selbst, der Rückkehr ein Jahr später und der von Albträumen, Memento-mori-Gefühlen und psychosomatischen Erkrankungen der Angehörigen geprägten Gegenwart hin und her. Zunächst riskiert er nur kurze Blicke zurück aufs Grauen. Es dauert, bis der Blick standhalten kann. Das hochreflexive, skrupulöse Bemühen, ein real-biografisches Trauma mit den Mitteln der Erzählkunst zur Sprache zu bringen, erinnert an Jan Philipp Reemtsmas Buch über seine Entführung „Im Keller“. Als hilfreich erweist sich, dass Haslinger andere Opfer zu Wort kommen lässt und, wie um sich an das selbst Erlebte heranzutasten, von den Schicksalen von Urlaubern, Aussteigern, Tauchlehrern und Barbesitzern erzählt. So ist dem österreichischen Romancier viel mehr als ein bloßer Augenzeugenbericht geglückt.

Josef Haslinger: „Phi Phi Island. Ein Bericht“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 200 Seiten, 17,90 €