Ich habe jetzt ein Rauscherlebnis!

Klassiker und Journalisten, Zitierkartelle und Entgrenzungserfahrungen, Fundstücke, Mitteilungsdrang und Lagerbildungen: Die ehrgeizige Anthologie „Pop seit 1964“ versammelt vierzig Jahre Popliteratur

Hat das wirklich gefehlt: eine Anthologie zu Pop und Literatur mit Texten von 1964 bis heute? Jedenfalls ist sie da. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch feiert vierzig Jahre Popliteratur mit einer Vierhundert-Seiten-Anthologie, die Romanauszüge und Originaltexte von Artmann, Fichte und Brinkmann über Fauser, Goetz und Meinecke bis zu Dath und Nieswandt versammelt – essayistische, journalistische und erzählende Texte, Popklassiker und kaum bekannte Fundstücke. Aufgeteilt in drei historische Kapitel erscheinen die Texte in chronologischer Reihenfolge. Also Popliteratur aus den Sechzigern, Achtzigern und Neunzigern und das Beste von heute.

Immerhin will „Pop seit 1964“, so heißt der Band, das Rätsel Pop nicht lösen, strebt keine Kanonbildung an und kommt erst einmal wie ein interessanter Sampler daher, in dem es doch einiges zu entdecken geben müsste. Die Herausgeber Kerstin Gleba und Eckhard Schuhmacher geben zu jedem Kapitel ein seriöse literaturgeschichtliche Einführung und so erfährt man, wie in den 60ern noch die Aufteilung Böll-fern und Beat-nah funktionierte, wie bürgerliches Feuilleton und Pop noch zwei feindliche Lager waren. Es gab Zeiten, in denen Elfriede Jelinek und Peter Handke zur Popliteratur zählten, Zeiten, in denen es ein Wagnis war, Popliterat zu sein.

Die alte Frage „Wer hat’s erfunden?“ wird neu gestellt, und diesmal bekommen Andy Warhol und die Factory den Zuschlag und Jack Kerouac bleibt außen vor. Ab den 80ern kommt der Journalismus dazu, da wird in Magazinen wie Wiener, Tempo, Sounds und Spex ein neues Schreiben geprobt und es geht laut Herausgeber „um Gegenwart, Nachtleben, Musik, Wut und Klatsch, um Provokation, Widerspruch und Affirmation, um Flüchtigkeit, Wirklichkeit und Wahrheit, um Klarheit, Rausch und Drogen“. Zwischendurch ist die Popliteratur immer mal wieder gestorben; es werden die neuen Lager Kiwi-Pop, also Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Elke Naters, gegen Suhrkamp-Pop, also Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Kathrin Röggla, aufgemacht.

Interessant an dem Reader ist, dass eine größere Anzahl von Texten aus vier Jahrzehnten zum ersten Mal so gebündelt werden, das nach dem Textstudium auch gebündelt klar wird, was einen an der Popliteratur immer so gestört hat und auch heute noch arg nervt: das Artifizielle, der zusammengeschusterte Pseudo-Stream-of-Consciousness, das sinnlose freie Assoziieren und das Hausieren mit Selbstverständlichkeiten. Und weiter: diese Wichtigtuerei im ewigen Erste-Person-Singular-Präsens, die zur Schau gestellte Plattenverehrung: „Wahnsinn, ich höre Musik, ich bin ganz und gar Fan, ich habe ein Rauscherlebnis! Ich habe Entgrenzungserfahrungen!“

Die Autoren gebärden sich stets, als wären sie die Ersten und Einzigen, die wissen, dass Musik Leben rettet, dass ein Club wichtiger sein kann als die Beziehung, dass man tagsüber nur abwartet, bis es Nacht wird und man raus kann. Popliteratur heißt aber auch: kein Herz, keine Handlung, keine Innerlichkeit, kein Schmerz.

Um ein irgendwie geartetes Nichteinverstandensein mit den Verhältnissen zu artikulieren, sind sich die Jungs eh zu cool und posh, und so bleibt es den in Unterzahl versammelten Autorinnen wie Kerstin Grether, Kathrin Röggla, Elfriede Jelinek vorbehalten, in ihrem Schreiben eine gewisse Bitterkeit, Wut, Verzweiflung oder – ganz uncool gesagt – Gesellschaftskritik auszudrücken.

Bei vielen der älteren, gewollt avantgardistischen Texten wird die Rezeption quälend, und so geraten, endlich in den Neunzigern angekommen, die Texte des Benjamin von Stuckrad-Barre zum reinen Lesevergnügen. Wohltuend wirken auch immer die Texte von Rainald Goetz, er ist nicht nur als Autor mehrmals vertreten, sondern kommt auch als Figur ständig in den Texten der Popliteratenkollegen vor.

Es ist schon ein großes Zitierkartell, die Liga der mittelschichtigen bis großbürgerlich-adligen Jung- und Altmänner in ihrem ungehemmten Mitteilungsdrang und dem eitlen Willen, ihre kleine, schicke Welt abbilden zu wollen.

Im Abschlussgespräch der Herausgeber mit Thomas Meinecke und Benjamin von Stuckrad-Barre sagt Meinecke: „Pop ist eine harte Tür“, und meint damit, nicht jeder durfte mitmachen beim Projekt Popliteratur. Aber gerade dem außenstehenden Betrachter kommt das ganz anders vor. „Alle müssen mit!“ scheint da die Parole gewesen zu sein. Gibt es doch seit den Neunzigern viele schlimme Popromane.

Während der Reader behauptet, Pop sei für das bürgerliche Feuilleton immer noch ein rotes Tuch, ist Pop für den popkulturell sozialisierten Menschen von heute eigentlich nur ein inflationär gebrauchter, ausgehöhlter, leerer Begriff. Nach 400 Seiten Popliteratur kommt einem da unwillkürlich die berühmte Songzeile der Mediengruppe Telekommander in den Sinn: „Pop! Pop! Bis zum Erbrechen schreien!!“

CHRISTIANE RÖSINGER

Kerstin Gleba, Eckhard Schumacher (Hg.): „Pop seit 1964“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 410 Seiten, 15 Euro