Pilgerreisen zur eigenen Erfahrung

ERLEBNIS Unser Literaturbetrieb ist zu sehr auf Romane fixiert. Das zeigen die neuen Bücher von Arno Geiger, Gregor Hens und Wolfgang Büscher

Der Vorwurf der Vermessenheit steht bei dieser Art Bücher immer im Raum. Ihre Autoren müssen sich ungeschützt bewegen

VON DIRK KNIPPHALS

Ironie kann jeder. Die wirklich guten Erlebnisberichtsbücher sind diejenigen, in denen den Erzähler, ohne groß ein Ding daraus zu machen, etwas anderes antreibt: Erleuchtungssehnsucht. Wolfgang Büscher schreibt solche Bücher, die dann gern zwischen alle Stühle fallen – nicht Roman, aber auch nicht Sachbuch, und der Begriff der Großreportage trifft auch nicht wirklich. Es ist an der Zeit, sich dieses seltsame Genre überhaupt einmal genauer anzuschauen; manches spricht dafür, dass die interessantesten Neuerscheinungen des Jahres bislang aus diesem Bereich kamen.

Wolfgang Büscher, 1951 geboren, ist der Langstreckenwanderer unter unseren Reportern. Die Fortbewegungsart bestimmt den leicht pilgerischen Duktus seiner Bücher. Sie handeln von der Mühsal der Landstraße, von flüchtigen Begegnungen, Aufgeschnapptem am Wegesrand. Bekannt wurde Büscher 2003 durch den Bericht seiner Wanderung „Berlin–Moskau“. 2006, auf dem Höhepunkt des WM-Patriotismus light, schritt er in „Deutschland, eine Reise“ die Grenzen Deutschlands ab.

Auch in seinem neuen Buch „Hartland. Zu Fuß durch Amerika“ (Rowohlt.Berlin, 302 Seiten, 19,95 Euro) ist die Streckenwahl entscheidend. Keineswegs geht er, was nahegelegen hätte, von Ost nach West durch die USA – sondern, genau in der Mitte des Landes, von Nord nach Süd: von den Scheeweiten Nord-Dakotas ein Stück weit den Missouri entlang, dann über Oklahoma City und Dallas bis hinunter an die vor Hitze flirrende texanisch-mexikanische Grenze. Die Routen der Siedlertrecks und auch die metaphysische Vorwärtsbewegung Amerikas („nach Westen“) schneidet er so in der Mitte durch. Ein einzelner Wanderer, auf eigene Faust quer zur großen Geschichte dieses mächtigen Landes unterwegs.

Mitten im Gräsermeer

Man muss es konstatieren, der Erlebnisbericht aus der eigenen Anschauung heraus bildet gemeinhin ein ziemlich korruptes Genre. Rund um eine These ein Erzähler-Ich oder einen Wir-Erzähler zu etablieren und so das anrecherchierte Wissen mit Anschauungsmaterial auszustaffieren, das bietet für viele Journalisten die schnellste Möglichkeit, ihre Buchverträge abzuarbeiten. Bei Wolfgang Büscher dagegen kann man sehen, wie großartig so ein Bericht sein kann.

Das Gefühl des On-the-Road-Seins – die Straße als endloses Band, die erhabene Verlorenheit im Gräsermeer der Prärie, der entnervende Kampf gegen den Wind, die Vielzahl der irritierenden, schönen, unverhofften kleinen Begegnungen – beglaubigt er durch gutes Schreiben. Aber das ist allererst die Grundvoraussetzung für das Gelingen so eines Berichts. Darüber hinaus setzt Büscher aus einzelnen Beobachtungen und Dialogen sowie zitierter Hintergrundliteratur von den historischen Entdeckungsreisenden über die Indianerkämpfe bis zum Anschlag auf John F. Kennedy das Bild dieses Landes, das von harter Arbeit und Stolz geprägt ist, zusammen.

Heraus kommt, was Siegfried Kracauer (sollte man echt mal wieder lesen!) in seiner klassischen Studie „Die Angestellten“ als Mosaik bezeichnete. Kracauer meinte, dass nur so ein zusammengesetztes Bild der „Konstruktion“ der Wirklichkeit gerecht werden könne: „Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.“ Dieses gelingende Mosaikhafte macht den Sachbuchgehalt von Wolfgang Büschers Buch aus.

Aber es steckt eben noch mehr darin. Es steckt drin, dass es Büscher schafft, dieses Mosaik (mit einem Thomas-Mann-Wort gesagt, das einem hier durchaus einfallen kann) zu beseelen. Das macht den literarischen Gehalt von Büschers Büchern aus.

Büscher in einem der eingestreuten essayistischen Absätze: „Amerika war ein Lied, an der Biegung des Flusses wartete die nächste Strophe. Es gibt besungene Länder und unbesungene, erzählte und unerzählte. Amerika ist ein Drittes – das sich selbst besingende, forterzählende Land.“ In seinen besten Passagen (es gibt auch allzu forcierte und allzu rasch wegerzählte Passagen, aber die sieht man ihm nach) kann man in diesem Buch dieses Lied geradezu hören. In dem Kauderwelsch und Singsang der Bewohner. In den pointiert eingefangenen Geräuschen in den Saloons und Motelzimmern, in denen Büscher die Nächte mit seinem einzigen „Kameraden“, dem Fernseher, verbringt. Und, im übertragenen Sinne, auch in den Landschafts- und Lebensbeschreibungen.

Wer Wolfgang Büschers neues Buch liest, muss sich über die allzu sehr auf Ordnung bedachte Romanfixierung unseres Literaturbetriebs wundern; viele interessante Entdeckungen lassen sich derzeit doch gerade bei den Mischformen machen! Der Essayist Michael Rutschky nannte solche Bücher, wie Wolfgang Büscher sie schreibt, einmal „Bücher ohne Familiennamen“.

Unkartografierte Vielfalt

Aber vielleicht hat die Fixierung auch etwas Gutes. Sie lenkt die Hierarchisierungssucht des Betriebs via Buchpreise aufs Suchen des immer einen großen Romans der Saison ab. Daneben konnte sich an den Nahtstellen von Literatur und Sachbuch zuletzt eine noch weithin unkartografierte Vielfalt von Erzählmöglichkeiten entwickeln – von den Schicksalsschlagbüchern Christoph Schlingensiefs, Georg Diez’ und Kathrin Schmidts bis zu den Essaydramen von Stephan Wackwitz; von den kalkulierten Ironiefesten Adam Soboczynskis bis zu Peggy Mädlers Ost-West-Untersuchungen über das Glück. Friedrich von Schierachs lakonische Kriminalfälle gehören auch dazu.

Mit Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ haben diese Bücher ohne Familiennamen in diesem Jahr auch schon einen großen Verkaufserfolg gehabt. Das Mosaik eines Lebens im Zeichen der Alzheimererkrankung des Vaters – Arno Geiger reagiert literarisch genau und in manchem die Tradition von Peter Handkes Selbstbefragung „Wunschloses Unglück“ fortsetzend auf eine autobiografische Lebenserfahrung. Und doch konnte man gerade an diesem Fall auch studieren, mit welchen Widerständen solche erfahrungsgeleiteten Berichte zu rechnen haben.

Arno Geiger würde die Krankheit seines Vaters ausbeuten, so hieß es. Dieser Vorwurf ist zutiefst ungerecht, hat aber einen heißen Kern. Dahinter steht der Vorwurf der Vermessenheit, der manchmal auch gegenüber Wolfgang Büscher erhoben wird: als würden diese Autoren sich selbst ohne Grund in den Mittelpunkt stellen. In der Tat steht dieser Vorwurf bei dieser Art Bücher immer im Raum; ihre Autoren müssen sich auf eigene Rechnung und ungeschützt von dem eingespielten Rahmen der reinen Belletristik bewegen.

Mit überraschenden Leidenschaftsbegegnungen. Als der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler neulich in „Wilde Wiesen“ anhand seiner Wohnorte seine bisherige Biografie nacherzählte (heraus kam eine der schönsten Geschichtsbücher über die alte Bundesrepublik nebst dem alten Westberlin), bekam der Kritiker Ulrich Greiner einen regelrechten Wutanfall. Sich so ernst nehmen wie der Ich-Erzähler in „Wilde Wiesen“ „darf“ man offenbar erst nach mindestens drei fertigen Romanen nebst Genievermutungszertifikat.

Dabei macht das unbedingte Ernstnehmen eigener Erfahrung (ohne sie raunend an die Antimedienglocke zu hängen wie Botho Strauß) die Qualität der besten dieser Erlebnisberichtsbücher aus. Und man muss dazu auch gar nicht so weit laufen wie Wolfgang Büscher. Eines der schönsten Bücher der Saison ist „Nikotin“ von Gregor Hens, ein Mosaik aus Selbsterkundung, Literaturschlenderei („Zeno Cosini“!), Familiengeschichte, Selbsttherapie und Biologiekurs rund um die Nikotinsucht des Autors, die er hinter sich bringen will (Fischer, 188 Seiten, 17,95 Euro).

An Hens’ Buch kann man sehen, was man als Autor erhält, wenn man sich nicht an die Autorität gängiger Romandramaturgien hält: Freiheit in der Darstellung. Vielleicht kann man wirklich sagen, dass diese Bücher ohne Familiennamen die Antiautoritären unter den gegenwärtigen Neuerscheinungen sind. Viel eher als sie unter Vermessenheitsverdacht zu stellen, sollte man sie danach beurteilen, wie weit sie diese Freiheit nutzen.

Das Wort Beseelung würde einem bei Gregor Hens nicht einfallen; aber er nutzt die Freiheit dazu, sein Mosaik weit ausgreifen zu lassen. Schon interessant, durch wie viele Themenbereiche man mit dem Nikotinthema kommt.

Und bei Wolfgang Büscher fängt diese Freiheit zu singen an.