Endlich Ruhe

Auf einmal war ich der Mann im Mond, das Baby im Bauch, der Taucher in der tiefsten Tiefe des Ozeans, doch trocken, ohne Raumanzug und tausende Kilometer von meiner Mutter entfernt. Eine persönliche Liebeserklärung zum hundertsten Geburtstag der Firma Ohropax

VON ARIEL MAGNUS

Seltsam: Ohropax wurde hundert Jahre alt – und wir hören nichts davon. Vielleicht kommt noch was, das Jahr ist ja immer noch jung. Vielleicht aber nicht. Vielleicht haben unsere Ohrschützer aus Wehrheim im Taunus ihre Jubiläums-Werbekampagne rund um den wirklichen Rohstoff der Marke gestalten: die Stille. Jeder Moment der Lautlosigkeit wirkt dementsprechend wie ein Feuerwerk, jedes Schweigen ist in Wahrheit ein schallendes Halleluja.

Ich aber, ein dankbarer Ohropax-Junkie, will doch ein wenig Krach machen. Ruhe darf man nicht ruhig feiern, und hundert Jahre Stillsamkeit kommen schließlich nicht jeden Tag vor. Ohne also mit dem Löffel an mein Glas zu klopfen, um eine Stille zu erbetteln, die es schon gibt, werde ich, wie es sich in guten deutschen Versammlungen gehört, meine persönliche Geschichte mit dem Geburtstagskind erzählen.

Als ich zum ersten Mal von dem Hundertjährigen hörte, war er erst 93. Es war in Heidelberg, Studentenwohnheim Im Neuenheimer Feld. „Nee, schlafen tue ich sowieso immer mit Ohropax“, ließ meine Nachbarin Elke mitten im Gespräch verlauten. Damals war ich erst seit ein paar Monaten in Deutschland, studierte Altphilologie an der Ruprecht-Karl-Universität und bereitete mein Latinum vor. Ohropax konnte nur eines bedeuten: der Friede des Ohrs. Aber der Name war zu gut, um wahr zu sein. „Kennste Ohropax nicht?“, warf mir Elke vor, als hätte ich gefragt, was eine Wurst oder Thomas Gottschalk sei (fünf Jahre Aufenthalt in Deutschland würden nicht reichen, um den Unterschied so richtig zu verstehen). Sogar mein Word-Rechtschreibprogramm, merke ich jetzt, erkennt das Wort und markiert es nicht rot!

Prompt nachdem ich Elkes technische Erklärung des Objekts wahrgenommen hatte („Es sind so Kügelchen aus Wachs, die stopfst du dir ins Ohr und – futsch – hörst nix mehr“) ging ich zur Apotheke, vorteilhaft neben der Mensa gelegen (von Anfang an konnte ich essen und unverzüglich Magentabletten kaufen). Zu meinem Erstaunen und zu meiner Beschämung standen die gelben Schachteln ganz plakativ vor meinen Augen, zusammen mit den Hustenbonbons Em-Eukal und Tempo-Taschentüchern (zwei weitere urdeutsche Produkte, wie ich später lernen durfte). Ich erwarb ganz diskret eine Zweierschachtel und lief fast zitternd nach Hause, als hätte ich einen Porno ausgeliehen (brauchte ich ja gar nicht, denn schon um zehn Uhr abends liefen erotische Filme im Fernsehen).

Vielleicht ist es nicht unangebracht, zu erklären – Geburtstagsreden sind doch das Reich der uninteressanten Abschweifungen –, dass ich schon als Kind sehr empfindlich Geräuschen gegenüber gewesen bin. Vor allem das Schmatzen am Tisch oder nachts das Atmen meines Bruders am anderen Ende des Zimmers haben meine schwachen Nerven immer wieder kaputt gemacht. Meine Oma nannte mich den kleinen hysterischen Proust und fand meine Beschwerden ganz lustig. Ich aber litt schwer darunter und probierte alle Mittel aus: Papierstöpsel, Baumwollröllchen, sogar Radiergummistückchen pflanzte ich mir ins Ohr, um mich akustisch zu isolieren. Aus jener Zeit bewahre ich noch heute die Gewohnheit, mit dem Kopfkissen nicht unter, sondern auf dem Kopf zu schlafen, natürlich bäuchlings, damit wenigstens ein Ohr, gegen die Matratze gepresst, seine Ruhe finden kann. Damals war ich fest davon überzeugt, dass Gott allen Menschen so etwas wie Ohrenlider gegeben hatte, weswegen sie manche Geräusche einfach ignorieren konnten. Auch ich hatte von ihm vielleicht welche bekommen, nur hatte mir niemand erklärt, wie sie zu aktivieren waren. Als mir die Lebenserfahrung beibrachte, dass Ohrenlider nicht nur absichtlich, sondern auch notwendigerweise fehlen, damit der schlafende Mensch noch stets seinen Instinkt wachhalte, hörte ich aus purer Rache auf, an Gott zu glauben.

Manche dieser Erinnerungen kamen zurück, als ich, der deutsch-französischen Gebrauchsanweisung auf der Rückseite der Schachtel folgend, den rosaroten Baumwollüberzug der Wachskugeln vorsichtig abnahm, das Material weich knetete und es „nicht zu tief in den äußeren Gehörgang“ eindrückte. Ich fühlte mich, als wäre ich innerhalb einer Flasche und jemand hätte sie hermetisch verschlossen. Ein wunderbares Gefühl, nur vergleichbar mit dem, was nach dem Eindrücken der zweiten Kapsel einsetzte: absolute, nie erlebte artifizielle Stille. Auf einmal war ich der Mann im Mond, das Baby im Bauch, der Taucher in der tiefsten Tiefe des Ozeans, doch trocken, ohne Raumanzug und tausende Kilometer von meiner Mutter entfernt. Kurz danach begann ich, meinen Herzschlag zu hören, auch mein Atmen. Dann kristallisierte sich die zischende Lautlosigkeit heraus, die im Ohr herrscht, wenn uns kein Ton ablenkt. Ich sah fast ängstlich um mich, irgendwie im Zweifel, ob die Welt noch existiere.

So habe ich die perfekte Stille entdeckt. Ausgerechnet im Land der Musik, wo jeder zweite Nachbar irgendein Instrument spielt. Ausgerechnet bei den „Boschen“, wo jeder alle möglichen Werkzeuge besitzt und wo ständig repariert, saniert, wiedergutgemacht wird. Aber es war doch logisch, wie ich später erfahren durfte: der schlesische Apotheker Maximilian Negwer kam auf die Ohropax-Idee, nachdem er den Trick von Odysseus gegen die Sirenen in seinem Homer gelesen hatte. Nur im Land der Philologen konnte jemand Homer so gut lesen! Nur im Land der Regeln und Gesetze konnte jemand die Literatur so ernst nehmen! Mein Landsmann, der argentinische Schriftsteller Antonio di Benedetto, der das vielleicht unheimlichste Buch über Geräusche und Geräuschhysteriker geschrieben hat, ich spreche von „Der Stillmacher“ (1964; deutsch 1968 mit dem Titel „Stille“), wäre nie auf diese Idee gekommen.

Ich kaufte mir gleich mehrere Zwanzigerschachteln, als fürchtete ich, es könnten die letzten sein. Seitdem schließe ich jede Nacht meine privaten Isofenster.

Auch tagsüber, wenn die Umklänge es erfordern, oder einfach so, auch wenn es still ist. Denn es kann immer noch stiller sein. Als Student konnte ich mir nicht leisten, jeden Tag ein frisches Paar Ohropax zu benutzen, also habe ich sie in die Länge gezogen (das Zusammenfügen älterer, klein gewordener Stöpsel zu einem größeren ist mir nie gelungen). Grob kalkuliert habe ich mittlerweile etwa 1.000 Ohropax verbraucht, also 50 Zwanzigerschachteln, das heißt rund 200 Euro. Das sind weniger als 30 Euro im Jahr! Der „Luxus für die Ohren“ könnte nicht günstiger sein. So viel Himmlisches für so wenig Irdisches war mir irgendwie suspekt. Dass es ein deutsches Produkt war, hätte früher jeden Zweifel ausgeräumt, doch nach meiner Ankunft im Land der Spitzenqualität wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Südkoreaner erklärte mir hier etwa, kalkreiches Wasser sei alles anders als harmlos, es fördere den Haarausfall; Wasserfilter dagegen führten direkt zum Krebs. Ich fragte also überall, ob der fanatische Missbrauch dieses unmittelbaren, immer einsatzbereiten Paradieses der Stille schädlich sein könne. Die Ärzte lachten über meine Frage, und ich lachte mit. Erst viele Jahre später, als ich nicht mehr fragte und einfach meine schöne, stille Welt genoss, wagte jemand anzudeuten, die Obstruktion der Ohren lasse die Mikroorganismen nicht raus, was langfristig ein Problem sein könne. Zu spät. Mittlerweile habe ich aufgehört, illegale Substanzen zu konsumieren, zu rauchen, Kaffee zu trinken, an meinen Nägeln rumzuknabbern. Ich habe sogar aufgehört, „schwul“ als Schimpfwort zu benutzen. Aber ohne Ohropax könnte ich definitiv nicht leben, geschweige denn schlafen. Ohropax nicht zu benutzen, das wäre für mich eine unerhörte Tortur. Schließlich schlafe ich mit Ohropax schon länger als mit meiner Frau.

Und doch verhält es sich so, dass ich, erst seitdem ich zurück in Buenos Aires bin, Ohropax richtig zu schätzen gelernt habe. In Deutschland ist Ruhe angesagt, obgleich die Überfülle an Maschinen dieses Gebot sichtlich und vor allem hörbar erschwert. In Buenos Aires dagegen gibt es mehr zu reparieren, aber weniger, was tatsächlich repariert wird, dafür aber spielt Ruhe überhaupt keine Rolle. Sie ist einfach kein Konzept. Die Müllabfuhr kann um drei Uhr nachts vorbeikommen; die Autoalarme geben täglich ihre unendlichen Hupkonzerte; Radios und Fernseher werden so laut gedreht, wie es technisch möglich ist. Wer Ruhe will, der ist schwul (immer noch ein aussagekräftiges Schimpfworts diesseits des Ozeans).

Deswegen muss ich immer erklären, was ich meine, wenn ich sage, Ohropax sei dasjenige aus Deutschland, was ich am meisten vermisse. Schwarzbrot und Brillenputzer, Grillwurstmänner in den Ecken und Punks überall, das auch. Aber vor allem Ohropax. Jeder, der aus Deutschland kommt, weiß, dass das Steak zu seinen Ehren nur dann mit Liebe gegrillt wird, wenn er eine Zwanzigerschachtel mitbringt. Ich habe schon dreizehn im Nachttisch, aber ich werde nie satt. Der nächste Besucher soll mir auch ein gelbes T-Shirt mit dem Logo der Firma mitbringen. Und Kafkas „Gesammelte Werke“, denn anscheinend ist er ein Ohropax-Fanatiker gewesen (gerade er, der „Das Schweigen der Sirenen“ geschrieben hat!).

„Sonst noch ein Wunsch?“, würde jetzt die deutsche Verkäuferin mit ihrer maschinellen Höflichkeit fragen. Nein, danke. Das war meine Liebesode an das Geburtstagskind. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche ein schönes, stilles Fest. Und du, mein allerliebster Ohropax, bleib mir gesund, denn Stille wie Gesundheit schätzt man erst, wenn man sie verliert. Also wohlauf, und zum Geburtstag viel Ruh!

Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Buenos Aires. Zuletzt erschienen sind: „Sandra“ und „La abuela“. Beide Werke liegen sträflicherweise noch nicht auf Deutsch vor