Der Bär, der dem Tod entkommt

Einem Eisbären in freier Wildbahn zu begegnen muss beängstigend sein: Der weiße Riese ist an Land das größte Raubtier – und das gefährlichste. Stellt sich ein erwachsenes Exemplar der Gattung Ursus maritimus auf die Hinterbeine, ragt es drei Meter in die Höhe. Sein Gebiss ist gewaltig, die Pranken pfannengroß. Begegnungen von Mensch und Eisbär verlaufen nicht selten tödlich – für den Menschen.

Aber Eisbären sind auch niedlich. Und am allerniedlichsten ist Knut. Vor drei Monaten wurde er im Berliner Zoo geboren. Weil die Mutter den Wurf verstieß, sprang ein Pfleger ein. Nach Wochen im Brutkasten, Ernährung mit der Flasche und intensiver tierärztlicher Betreuung hat „Cute Knut“, wie ihn der Hauptstadt-Boulevard getauft hat, neun Kilo Lebendgewicht erreicht. In Kürze soll er erstmals dem zahlenden Publikum präsentiert werden. Eine zehnteilige Knut-Doku läuft ab Samstag in der ARD.

Schon jetzt hat der kleine Bär, ohne das Geringste zu ahnen, eine Tierschutzdebatte angestoßen: „Wird süßer Knut totgespritzt?“, fragt, ernstlich besorgt, die Bild-Zeitung. Tierschützer forderten, so das Blatt, Knut einzuschläfern. Der Bär werde seinen Artgenossen entfremdet und verliere das natürliche Verhalten. Auch wenn sich dem Tötungsappell kein deutscher Tierpark anschließen will – die Kritik ist in der Welt. Der Zoo Aachen polemisierte gegen die Kollegen in Berlin, sie hätten das Bärenbaby von Anfang an nicht leben lassen dürfen.

Auch Wolfgang Apel, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, verwahrt sich gegen den Ruf nach der Giftspritze: „Knut ist ein gesundes Tier und hat ein Recht zu leben.“ Apels Kritik ist fundamentaler: Eisbären in Gehege zu sperren sei „sanktionierte Tierquälerei“. Den Zoos wirft Deutschlands oberster Tierschützer „Vermenschlichung“ von Wildtieren vor, die allein der Werbung diene. Apel: „Ich möchte kein Eisbär in einem Zoo sein.“

In Berlin sieht man das naturgemäß anders: Der Zoologe Ragnar Kühne findet die Aufzucht von Menschenhand unproblematisch: Knut sei genetisch auf ein Einzelgängerdasein programmiert und werde sich früh genug vom Ziehvater lösen. Tierschützern wie Apel wirft er vor, sie wollten bedrohte Arten „in Würde aussterben lassen“. Dass es dem Zoo nur um Publicity gehe, weist Kühne von sich: „Ich habe so manche Antilope mühsam mit der Flasche aufgezogen. Darüber hat natürlich keiner geschrieben.“

Eins ist sicher: Um sein Leben muss Knut nicht fürchten. Die Berliner pflegen von jeher innige Beziehungen zu ihren Zootieren, von Nilpferd „Bulette“ bis Gorilla „Knorke“. Eher käme es in der Hauptstadt zur Revolte als Knut zum Abdecker.

CLAUDIUS PRÖSSER