Colin Crouch über Postdemokratie: "Ein schizophrener Moment"

Der Neoliberalismus scheiterte total. Damit ist jetzt alles möglich: Die Stärkung der Demokratie oder ihre weitere Schwächung, sagt der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch.

Das freie Spiel der Wirtschaft produziert zu viele Verlierer. Bild: ap

taz: Die Demokratie ist in der Krise, weil die wirtschaftlich Mächtigen die Politik diktieren - das ist eine der Thesen Ihres Buches "Postdemokratie". Ändert sich da vielleicht gerade etwas?

Colin Crouch, *1944, leitet seit 2005 das Institute of Governance and Public Management an der Warwick-Universität. Er ist zudem Professor für "Comparative Social Institutions" am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (EUI). In "Postdemokratie" (Suhrkamp 2008) führt er aus, wie sich die Politik allzu sehr auf Lobbygruppen und Expertengremien, auf Marketing und die massenmediale Präsenz von politischen Führern verlässt.

Colin Crouch: Ja, nur wissen wir nicht, wozu das führt. In Ländern wie Deutschland und Österreich wird womöglich der Korporatismus wieder aufleben, also eine enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft. In Großbritannien sieht es wieder anders aus. Es gibt hier die Finanzelite - und die ist eigentlich die einzige Elite. Und man darf nicht vergessen: Das Modell, das gerade gescheitert ist, bestand darin, durch private Verschuldung die Nachfrage hoch und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Dazu gibt es bisher keine ausformulierte Alternative. Deshalb wünschen sich die politischen Eliten wohl am meisten, dass das Modell repariert wird und weiter funktioniert - nur mit etwas weniger High Risk.

Aber in der Öffentlichkeit wird wieder über Makroökonomie diskutiert, über Konjunkturprogramme und darüber, was die Regierungen tun sollen. Vor ein paar Monaten hätte man noch gesagt: Diese Probleme können nur die Märkte selbst lösen. Das ist doch ein Fortschritt, oder?

Mit Sicherheit ist das reine Marktmodell, das nur in seinem Selbstverständnis das "freie Spiel der Konkurrenz" fördert, in der Wirklichkeit aber zu Machtkonzentration der wirtschaftlich Mächtigen führt, in der Krise. Aber es hängt sehr von den Umständen ab, ob daraus etwas Positives entsteht. Das erfreulichste Exempel sind die USA. Hier hatten wir eine Regierung, die dieses Modell verteidigte. Und es stieg ein Herausforderer auf, der dieses Modell kritisierte. Da hatten die Wähler eine klare Alternative, und sie haben sich klar entschieden. In Großbritannien ist die Situation ganz anders. Hier haben wir eine Regierung, die dieses Modell auch verteidigt. Und die Opposition verteidigt es noch entschiedener. Wie sollen die Wähler da für einen Kurswechsel votieren? Oder Deutschland: Dort legt gerade die FDP zu, die das katastrophal gescheiterte System in seiner Reinform propagiert.

Der Fall Obama ist also ein historischer Glücksfall?

Ja. Vor ein paar Monaten hat mir eine ehemalige Studentin geschrieben, ob die Obama-Bewegung nicht meine These von der inneren Aushöhlung der Demokratie widerlegt. Ich habe ihr geantwortet: Ja. Und ich hoffe, dass das anhalten wird. Obama war zwar der Kandidat der Demokratischen Partei, aber de facto brachte ihn eine Bewegung kritischer, engagierter junger Leute ins Weiße Haus. Das ist die Hoffnung für die Zukunft.

Viele erinnern jetzt daran, dass während der Krise der Dreißigerjahre die USA nach links rückten, Kontinentaleuropa nach rechts. Kann das wieder passieren?

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt eine reales Element, das diese Furcht begründet. In vielen kontinentaleuropäischen Ländern sind die stärksten oppositionellen Strömungen, die kritisch zum Gesamtarrangement, also "zum System" stehen, xenophobe rechte Bewegungen. Die können natürlich gewinnen, wenn das System weiter an Legitimation verliert.

Das kapitalistische Marktsystem kollabiert beinahe, aber für die Linken ist das nicht automatisch ein Vorteil?

Nein. Das hat natürlich wesentlich damit zu tun, dass sich die Mitte-links-Parteien - Sozialdemokraten, Sozialliberale, Grüne - mit dem Marktsystem arrangiert haben, während die radikalere Linke in den meisten Fällen noch immer völlig jenseits der Realität steht. Mit einem Wort: Es ist ein sehr gefährlicher Moment. Aber es ist auch ein interessanter Moment, weil die Hegemonie des neoliberalen Modells fundamental infrage gestellt ist. Und es ist auch ein schizophrener Moment: Was die Möglichkeit betrifft, dass es wieder eine lebendigere Politik gibt, ist es ein hoffnungsfroher Moment. Was die ökonomischen Aussichten betrifft, ist es natürlich ein deprimierender Moment, und man kann nur wünschen, dass nicht zu viele Menschen ins Elend abstürzen.

Jetzt schließt fast niemand mehr einen Totalkollaps aus?

Ja. Alles scheint plötzlich zu wanken. Wir wissen nicht einmal mehr, wie wir rechnen sollen. Wir rechnen in Geld. Aber was ist Geld? Endlose astronomische Zahlenreihen, die per Mausklick verschoben werden und morgen nichts mehr wert sein können? Geld wird plötzlich als Kalkulationsgröße für Reichtum fragwürdig. All das ist sehr beängstigend, aber auch sehr interessant.

Welches wirtschaftliche Arrangement wird es geben, wenn wir all das überstanden haben?

Das ist offen und damit wieder in der Hand von demokratischer Politik. Aber man kann natürlich heute schon sichtbare Trends weiterdenken. Und insofern ist es wahrscheinlich, dass wir bald sehr viel weniger große Player im Finanzsektor haben werden und dass sie alle mehr oder minder eng mit Regierungen verbunden sein werden. Die Regierungen haben aber andererseits kein großes Interesse, diese Unternehmen selbst zu führen - als buchstäbliche Staatsbanken. Tatsächlich aber wird es ein Bankensystem sein, das weitgehend von den Regierungen erst wieder geschaffen werden muss - also doch sehr staatsnah. Das System wird sich weniger durch Begriffe wie "Markt", "freie Auswahl" und "Deregulierung" legitimieren, sondern eher durch Begriffe wie "Verantwortlichkeit" oder "Sicherheit". Firmen, deren verantwortliches Handeln durch den Staat gewährleistet wird, werden die Role Models sein. Das ist schon das exakte Gegenteil des bisherigen Arrangements.

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