Unehrlich währt am längsten

Massimo Carlotto zeichnet ein erhellend düsteres Bild der italienischen Gesellschaft

Wäre die Gesellschaft tatsächlich so grausam, wie sie Massimo Carlotto in seinem Roman „Arrivederci amore, ciao“ schildert, müsste man den noch in Haft befindlichen ehemaligen Mitgliedern der RAF (und darüber hinaus jedem Häftling) ernsthaft vorschlagen, nicht auf eine schnelle Entlassung zu drängen, sondern besser im Gefängnis zu bleiben. Denn wenn der italienische Autor eines zeigt, dann das: „Draußen“ ist feindlich. Wer sich dort behaupten will, muss kriminell sein.

Das begreift sein Protagonist Giorgio Pellegrini schneller, als er seinen ersten Mord begangen hat. Der geschieht im mittelamerikanischen Exil, wohin der grundsympathische Antiheld flüchtete, um den Fängen der italienischen Exekutive zu entgehen. Sie sucht ihn wegen eines Bombenanschlags, den er als Aktivist der radikalen Linken begangen haben soll. Nach dem ersten Mord hat er keine Lust mehr auf weitere Jahre des Versteckspielens. Über Paris kehrt Pellegrini nach Italien zurück, bietet sich der Justiz als Kronzeuge und der Polizei als Spitzel an, um, wie er hofft, nach einer kurzen Zeit in Haft wieder ein normales Leben führen zu können.

Schon im Knast merkt er aber, dass daraus nichts werden kann. Als Spitzel von den Gefängnisbeamten gedeckt, wird er dort zum Zuhälter. Doch das ist harmlos im Vergleich zu dem, was außerhalb der Gefängnismauern an krimineller Aktivität von ihm erwartet wird, damit aus dem normalen Leben etwas werden kann. Man hat noch keine fünfzig Seiten gelesen, als Pellegrini von der Selbsterkenntnis gepackt wird: „Ich war widerlich, ein Mistkerl. Deswegen schämte ich aber kein bisschen.“

Die Scham wird auch in der Folge nicht mehr kommen, egal ob er im Sexgewerbe anheuert, einen Raubüberfall auf einen Geldtransporter organisiert oder Leute umbringt – so leicht und locker, wie andere einen Pizzateig formen. Es ist nicht seine Entscheidung, die bürgerliche Karriere auf Mord und Totschlag zu gründen. Fast jeder, der ihm begegnet – korrupte Polizisten und Anwälte genauso wie ehemalige Genossen –, drängt ihn dazu. Aber es ist auch nicht so, dass er bloß ein Opfer der Verhältnisse ist. In Carlottos literarischem Italien der Neunziger fallen Bürgerlichkeit und Kriminalität in eins und warum sollte Pellegrini da anders sein? Er will sich ja unbedingt anpassen. Diese Anpassungsleistung, die bürgerliche Gesellschaften fast immer von Delinquenten erwarten, am Beispiel des „nordostitalienischen Wirtschaftsmodells, in dem sich legale und illegale Wirtschaft zu einem einzigen System mischten“, in aller Konsequenz anschaulich zu machen, genau das ist die große Leistung von Carlottos temporeichem und in einer schlichten, schönen Sprache geschriebenem Roman.

Zum Glück ist die Gesellschaft in der Realität manchmal doch nicht so grausam wie in Carlottos Literatur. Als Mitglied der in den Siebzigerjahren zur radikalen Linken Italiens gehörenden Gruppe Lotta Continua wurde er zu Unrecht wegen Mordes verurteilt, konnte fliehen, ging fünf Jahre lang ins Exil, stellte sich dann den italienischen Behörden, verbrachte sechs Jahre in Haft und wurde schließlich 1993 begnadigt. Im Gegensatz zu seiner Hauptfigur Pellegrini aber musste er sich danach seinen Lebensunterhalt nicht mit allerlei kriminellen Geschäften verdienen. Carlotto ist heute einer der erfolgreichsten Schriftsteller Italiens. MAIK SÖHLER

Massimo Carlotto: „Arrivederci amore, ciao“. Aus dem Ital. von Hinrich Schmidt-Henkel. Tropen, Berlin 2007, 192 Seiten, 18,80 Euro