Der Mann in der Krise

LIDOKINO 2 Alejandro González Iñárritus „Birdman“ macht sich als tiefe, hypervirile Stimme im Kopf breit

Eine Propellermaschine trägt mich über die Alpen, unter den vielen Wolken sind die Gipfel nur selten zu erkennen, nach der Landung in Venedig fällt Regen. Zwei Reihen vor mir sitzt der Filmemacher Philip Gröning, der zur neunköpfigen Wettbewerbsjury der diesjährigen Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica gehört.

Vor einem Jahr nahm er mit „Die Frau des Polizisten“ am Wettbewerb teil, damals gewann er den Spezialpreis der Jury. Als der Film im März in Deutschland in die Kinos kam, erhielt er leider nicht den Zuschauerzuspruch, den er verdient hätte. Er mochte in manchen ästhetischen Setzungen etwas prätentiös sein, aber die Ernsthaftigkeit, mit der er von häuslicher Gewalt erzählte, von Nähe, Geborgenheit und Schlägen, rührte an. Vor allem aber war Grönings Film überraschend souverän darin, von der Krise einer männlichen Figur zu erzählen, ohne je apologetische oder larmoyante Töne anzuschlagen.

Um einen Mann in der Krise dreht sich auch „Birdman“ von Alejandro González Iñárritu, Eröffnungsfilm und erster Beitrag zum Wettbewerb. Ein in die Jahre gekommener Schauspieler namens Riggan Thomson (Michael Keaton) hat vor langer Zeit einen Superhelden verkörpert, wie man ihn aus dem Marvel-Universum kennt. Birdman hieß die Figur, ein Mischwesen aus Mann und Raubvogel, doch der Ruhm ist längst verblasst. Schlimmer noch: Geliebt wurde vor allem die Figur, weniger der Darsteller.

Am Broadway versucht Thomson nun ein Comeback. Er hat einen Roman von Raymond Carver für die Bühne adaptiert, spielt in der Inszenierung eine tragende Rolle, und die Regie liegt auch noch in seiner Verantwortung. Das klingt nicht zufällig nach Selbstüberschätzung, und wo die ist, sind auch Selbstzweifel nicht weit.

Nicht umsonst sind die ersten Bilder von „Birdman“ die einer vom Himmel stürzenden, lichterloh brennenden Feuerkugel. Der Superheld von einst macht sich als tiefe, hypervirile Stimme im Kopf von Thomson breit; herrisch spricht diese Stimme zu ihm, fordert ihn auf, sich endlich für ein Sequel zur Verfügung zu stellen, und einmal verführt sie ihn zu einer Eskapade im Himmel über New York. Während für die Passanten in Midtown der Alltag weitergeht, besiegt Thomson-Birdman an den oberen Kanten der Hochhäuser Riesenvögel; Superheldenaction drängt sich mächtig und röhrend in die Showbusiness-Selbstreflexion.

González Iñárritu ist bekannt für Dramen wie „21 Grams“, oder „Amores perros“, Filme, die auf aufwendige Weise in Episoden zersplittern und am Ende doch immer nahtlos aufgehen. „Birdman“ verleiht er dagegen eine mild-komödiantische Note. Die tragischen Seiten der Geschichte kommen zwar zum Vorschein, ziehen sich aber zurück, bevor sie allzu wirkmächtig werden.

Das Theater am Broadway mit seinen engen Fluren, den Garderoben, dem Schnürboden, der Hinter- und der Vorderbühne wird von den Figuren und der Kamera selten verlassen. Manchmal wölben sich die Wände und neigt sich der Boden im Rhythmus der jazzigen Töne, die den Soundtrack bestimmen.

Die Unsicherheit der Hauptfigur überträgt sich auf den Raum, und die Unterscheidung zwischen realem Filmgeschehen, inneren Stimmen und Einbildungen ist ähnlich unstet wie die Wände des Theaters. Wenn etwa Thomson in einer der ersten Szenen in der Luft schwebt, als sei er ein Meister der Levitation, weiß man nicht, ob man seinen Augen trauen kann. Hinzu kommt, dass Keaton, der Darsteller des unglücklichen Darstellers, selbst mal einen Superhelden spielte, in Tim Burtons „Batmans Rückkehr“ aus dem Jahr 1992.

Doch die Verschachtelungen bleiben auf ähnliche Weise Behauptung wie die Puzzlestruktur in den anderen Filmen von González Iñárritu. Denn all die Beziehungen und Spiegelungen zwischen dem Theaterstück, dem Filmgeschehen und der Rollengeschichte Michael Keatons weisen am Ende doch nur auf die Figur Thomsons und auf deren Selbstmitleid, das unser Mitleid aktivieren möchte. CRISTINA NORD