Schlechte Zeiten für Machtausübung

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN In einer neuen Vierteljahresschrift sucht „Tumult“ die Konsensstörung und landet im Kulturpessimismus

Pluralität heiße in diesem Fall, so heben die Herausgeber hervor, „dass möglichst viele ‚ganz individuell‘ das Gleiche tun“

Das Internet ist anstößig geworden. Galt es noch bis ins vergangene Jahr als großes Freiheitsversprechen, an dem man zwar das eine oder andere Detail auszusetzen hatte, hat sich seit den Enthüllungen Edward Snowdens eine Art Fatalismus breitgemacht, mit dem man seither auf das Bekanntwerden der großflächigen Onlineüberwachungsmöglichkeiten reagiert. Ein echtes Außerhalb des Internets gibt es kaum noch, im Grunde bleibt einem nicht viel mehr als das Leben in einem Paradox: Man weiß um das eigene Durchleuchtetsein – womöglich ohne sich des vollständigen Ausmaßes bewusst zu sein –, versucht es aber beim Schreiben von E-Mails, Telefonieren oder Bedienen von Suchmaschinen so gut es geht auszublenden.

Der Publizist Frank Böckelmann erkennt im Beharren auf Privatheit und Macht im Internet denn auch bloß „Phantasmen“. „Keine Souveränität für niemand“ lautet sein Beitrag in dem von ihm und Horst Ebner herausgegebenen Magazin Tumult – Vierteljahresschrift für Konsensstörung.

Damit hat die Reihe Tumult – Schriften zur Verkehrswissenschaft neuen Zuwachs bekommen. Böckelmann und Ebner wollen mit dem Magazin „auf einen wachsenden Konsensdruck“ reagieren, der erzeugt werde „durch global vernetzte, machtvolle Sinnproduzenten alter und neuester Medien, die im Zusammenschluss mit der vom Finanzkapital beherrschten Weltwirtschaft und den ihnen servil zuarbeitenden Wissenschafts- und Forschungsbetrieben die neokonforme öffentliche Meinung inszenieren“.

Das klingt nach etwas elitärem „Wir gegen den Rest“-Gebaren. Die Herausgeber unterstreichen damit allemal ihren Anspruch, dem „vorherrschenden Weltbild“ die eigenen Überlegungen in kritischer Absicht entgegenzustellen. In der „Gleichschaltung von heute“ sehen Böckelmann und Ebner einen „Individualitätszwang des Massenmenschen“, der sich darin äußere, „nicht festgelegt zu sein“.

Wobei sie hervorheben, dass Pluralität in diesem Fall heiße, „dass möglichst viele ‚ganz individuell‘ das Gleiche tun“. Die Zeitschrift will keine weltumspannende Verschwörung demaskieren und beansprucht auch nicht den Besitz von Antworten auf die herandrängenden Fragen, sondern sieht sich lediglich „wieder am Anfang des Erkennens“. Die Welt, in der wir leben, sei eine „Terra incognita“, die es zuförderst zu erkunden gilt.

So ganz anders sind die in Tumult angestellten Beobachtungen jedoch nicht immer. Dass die Nutzer des Internets, wie Böckelmann bemerkt, keine reinen „User“ mehr sind, sondern längst „transparente Dienstleister“, die bereitwillig die Potenziale ihrer Apps ausschöpfen, ist keine wirklich neue Einsicht.

Interessanter sind da Böckelmanns Ideen zu den Konsequenzen von Big Data und der Allgegenwart der Überwachung durch die Geheimdienste. Deren Macht werde durch ihre Totalkontrolle der Kommunikation keinesfalls gestärkt: „Beliebigkeit und Macht schließen sich gegenseitig aus“, mit dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Ausübung von Macht noch nie so schlecht waren wie heute.

Leicht kulturpessimistische Töne finden sich auch in anderen Artikeln. So sieht der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider das Internet und die Smartphone-Apps an der Schwelle zur umfassenden Denunziationstechnologie. Eine Falschparker-App gebe es schon, bis zur Fingerabdrucks-App zum Melden frisch ertappter Ladendiebe könne es nicht mehr weit sein. Dass die moralische Empörung als Motor dieser Innovation dient, kann Schneider kaum beruhigen, da dieser Affekt „nicht sehr gründlich“ arbeite. Eine derart technisch gestützte vierte Gewalt sei für die Demokratie daher mehr als unnötig: „Der anonyme Denunziant ist eine von der Geschichte gottlob ausgespiene verächtliche Gestalt.“

Ein Schwerpunkt des aktuellen Sommerhefts ist dem 1998 gestorbenen griechischen Philosophen Panajotis Kondylis gewidmet, aus dessen Nachlass zwei unveröffentlichte Texte abgedruckt sind, die „Notizen zur Sozialontologie“ und ein Essay über Martin Heideggers „Sein und Zeit“, der mit den Worten beginnt: „Ich halte Heideggers ‚Sein und Zeit‘ für eines der am meisten überschätzten Bücher dieses Jahrhunderts.“ Der Philosoph und Mitherausgeber der Martin-Heidegger-Ausgabe Peter Trawny reagiert mit einer Warnung vor undifferenziertem „Heidegger-Bashing“ im Besonderen und radikalen Verdikten über Denker im Allgemeinen: „Wenn einer einmal sein negatives Urteil fällt, mit aller Deutlichkeit seine Abneigung betont, werden die Adern des Denkens verstopft.“

Bleibt die Frage, ob damit die Leser gemeint sind oder der Verfasser selbst. Wache Leser jedenfalls dürften sich das Denken nicht ganz so leicht abklemmen lassen. TIM CASPAR BOEHME

■ „Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung“, Sommer 2014, 8 Euro