Weiße Rose im Norden: Ungeordnete Erkenntnisse

Sicher, die Münchener Widerstandsgruppe "Weiße Rose" ist bekannt. Aber wer erinnert sich an ihren Ableger in Hamburg?

Heinz Kucharski, Hamburger Jung und Kopf des hanseatischen Zweigs der Weißen Rose, fuhr zwei Wochen vor Kriegsende im April 1945 zu seiner Hinrichtung. Am 17. April hatte der so genannte Volksgerichtshof an der Elbe getagt und den 25-jährigen Studenten der Völkerkunde zum Tode durch das Fallbeil verurteilt: Kucharski sei der "Vorbereitung zum Hochverrat" schuldig, der "Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und des Abhörens und Verbreitens von Nachrichten ausländischer Sender". Doch die Justiz in Hamburg praktizierte die Enthauptung schon seit einigen Jahren nicht mehr.

Angekettet an einen weiteren Todgeweihten saß Heinz Kucharski deshalb bald darauf in einem der letzten Häftlingstransporte gen Osten: Vom Gestapo-Gefängnis in Hamburg-Fuhlsbüttel ging es zur bürokratisch einwandfreien Hinrichtungsstätte nach Bützow-Dreibergen, Mecklenburg. Während der Fahrt tauchten plötzlich britische Flieger auf, beschossen im Tiefflug den Konvoi. Fliegeralarm! Tumult. Chaos. Heinz ergriff mit seinem Schicksalsgenossen die vom Himmel gesendete Chance: Eine filmreife Flucht in Ketten rettete ihm buchstäblich den Kopf.

Dass es vielen Mitstreitern der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" anders erging, dessen gedenkt die Republik an diesem Wochenende: Zum 66. Mal jährt sich am 22. Februar die Hinrichtung von Christoph Probst sowie der Geschwister Sophie und Hans Scholl, den prominenten Münchener Figuren des studentischen Widerstands gegen die NS-Diktatur. Ihre engen Kontakte nach Norddeutschland allerdings liegen im Schatten ihrer populären Namen.

Die Geschichte des Hamburger Netzwerks der Weißen Rose ist ein ungeschriebenes Kapitel - obwohl man jahrelang regen Austausch betrieb mit den gleichgesinnten und nicht gleichgeschalteten Kommilitonen an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Einzig ein Buch, "Streiflichter des Hamburger Widerstands", versuchte 1968 eine umfassende Darstellung zu liefern. Spätere Interviews, Publikationen und Erkenntnisse verblieben bislang in wahlloser Unordnung.

Rund 30 Hamburger Weiße-Rose-Mitglieder wurden bis 1944 angeklagt. Acht von ihnen ermordet in den Folterstätten Fuhlsbüttel, Neuengamme und Mauthausen, vier noch im April 1945, kurz vor dem Untergang des Dritten Reichs. Und manch berühmt gewordenes Flugblatt aus München wäre wahrscheinlich nie ohne die subversive Wechselbeziehung mit dem Norden formuliert worden: Viele Zitate aus Literatur und Dichtung, die Sophie und Hans Scholl, Christian Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell in ihren sechs Druckschriften verwendeten, brachte 1941 eine Hamburger Medizinstudentin aus ihrem "entarteten" Lesekreis nach Süddeutschland: Traute Lafrenz. Ein halbes Jahr lang waren sie und Hans Scholl ein Paar, danach weiter eng und konspirativ befreundet.

"Der Inhalt der Flugblätter erschien mir sofort als Reflektion all unserer Gespräche", sagte Traute Lafrenz später einmal in einem Interview über die ersten, vor ihr geheim gehaltenen Aktionen. "Ich entdeckte sofort die Literatur, die wir gelesen hatten." Den Freunden entlockte sie schnell das Geständnis - und reiste im November 1942 in die Heimatstadt. Ihren einstigen Mitschülern Heinz Kucharski und Margaretha Rothe berichtete sie "von den Vorgängen in München, gab ihnen zwei Flugblätter und wir besprachen, die Verbreitung auch über Norddeutschland auszudehnen".

Viele dieser spannenden Erinnerungen Traute Lafrenz haben jüngst Hamburger Behördengänger nachlesen können: im Foyer des dortigen Bezirksamts Nord. Der Verein Fördergesellschaft für Frieden und Demokratie hat sich von der Weiße-Rose-Stiftung in München eine Mini-Ausstellung über Traute Lafrenz geliehen - die schon 2007 die Aufmerksamkeit einer überraschten Öffentlichkeit auf sich zog: "Die Liebe führte sie in den Widerstand", schrieb schnulzig die Süddeutsche Zeitung.

Drei Stellwände steuerte die Stiftung jetzt hinzu. Die sollen aber nur der Auftakt sein für "ein Projekt", so Initiator Walter Schönfeld, "das auf Jahre angelegt ist". Der Verein, von ehemaligen Widerstandskämpfern gegründet, will in diesen Tagen Geld beantragen, um Schulprojekte einzubinden und den geschichtlich blinden Fleck endlich wegzuschrubben. Der erwähnte Auftakt allerdings ist, Pardon, ein armseliger geworden. Wie aussortiert und abgegeben hingen da zwölf Tafeln in einer sterilen Eingangshalle - nirgends öffentlich angekündigt, überflogen einzig von irritierten Sachbearbeiterinnen auf dem Weg zur nächsten Zigarette.

Nach fünf Tagen hatte sich immerhin eine Person in die Liste für den Projekt-Newsletter eingetragen - eine der Organisatorinnen. Ein greiser PC übertrug stolze 351 Megabyte Informationen zu Traute Lafrenz und der Hamburger Weißen Rose auf jeden mitgebrachten USB-Stick. Wer eine halbe Stunde wartet, kann die ganze Ausstellung und weitere Materialsammlungen dann mit nach Hause nehmen und sich das historische Puzzle selbst zusammensetzen.

Traute Lafrenz-Page ist eine der letzten Überlebenden der Weißen Rose. Heute lebt die 89-jährige pensionierte Ärztin in South Carolina. Früher ging sie mit Heinz und Magaretha, allesamt Jahrgang 1919, bei Erna Stahl in die Klasse. Die Lichtwarkschule im Arbeiter- und Kaufmannsviertel Hamburg-Winterhude galt als reformpädagogisches Vorzeigeprojekt in der Weimarer Republik. Und Lehrerin Stahl, die auch Loki Glaser und Helmut Schmidt unterrichtete, war hier schon damals für ihre feste demokratische Gesinnung bekannt. Als sie deshalb 1935 strafversetzt wurde, lud sie ihr Schüler-Trio Traute, Heinz und Magaretha regelmäßig zu Leseabenden ein. Was hier vorgetragen und erdacht wurde, gelangte wenige Jahre darauf auch nach München.

Umgekehrt ergänzte Lafrenz vom Süden das Tun der Freunde aus ihrem Hamburger Zirkel, "die dem Münchner Kreis in Gesinnung und Denkensart ähnlich waren, wenn auch ihre mehr rein intellektuelle, weniger vitale Veranlagung weniger zum Tun drängte". Als Heinz Kucharski im Winter 1942 zwei Flugblatt-Exemplare von Lafrenz erhielt, schrieb er sie mit Magaretha Rothe ein paarmal ab. Eine Abschrift bekam auch ein Student in die Finger, der am Hamburger Jungfernstieg die Buchhandlung "Agentur des Rauhen Hauses" betrieb. Gemeinsam verteilten sie Flugblätter, veröffentlichten verbotene Radiofrequenzen. Es entstand eine Verbindung zu den "Candidates of Humanity", oppositionellen Ärzten am Universitätsklinikum Eppendorf.

Zerschlagene Gruppe

Als Heinz und Magaretha am 9. November 1943 von der Gestapo verhaftet wurden, sind die blutigen Urteile von München längst vollstreckt, die Geschwister Scholl, Probst, Graf, Schmorell und ihr Professor Kurt Huber tot.

Traute Lafrenz war von Richter Roland Freisler bereits im März 1943 wegen "Mitwisserschaft" zu einem Jahr Haft verurteilt worden. In den Verhören konnte sie ihre aktive Teilnahme am Widerstand verschleiern und dadurch ihre Hamburger Kommilitonen schützen. Ende 1943 war nach Denunziationen auch dort die Weiße Rose zerschlagen. Magaretha Rothe und Heinz Kucharski kamen mit dreißig anderen ins Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel. Nach einer Odyssee durch Frauengefängnisse in Berlin, Cottbus und Leipzig, starb Magaretha Rothe am 15. April 1945 an Lungentuberkulose.

Im heutigen Stadtleben ist das Magaretha-Rothe-Gymnasium die auffälligste Reminiszenz an den einstigen studentischen Widerstand. Einige Lehrer, darunter der Neffe der Scholls, arbeiten hier seit Jahren mit der Schülerschaft am Gedenken. Ein preisgekrönter, monumentaler Comic-Strip über Magarethas subversive Tätigkeit, gefertigt 2003 von einem Kunstkurs, hängt an den Wänden der Aula.

Der kleine Verein der Fördergesellschaft fand mit dieser Schule einen Projektpartner. Geplant ist nun eine Wanderausstellung, die immer umfangreicher werden soll, bis alle Aspekte der Hamburger Weißen Rose dokumentiert sind. Der Comic soll dazu gehören - und natürlich die Erzählungen Traute Lafrenz, die so klar die Dynamik jugendlicher Empörung beschreibt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.