Knarren, Machos, Kettensägen

SPEKTAKEL Das Fantasy-Filmfest ist eine Abwechslung außerhalb des geschmackssicheren Festivalbetriebs – und führt an die proletarischen Jahrmarkt-Wurzeln des Kinos zurück

Glazer erzeugt einen so minimalistischen wie meditativen Ambient-Bilderbogen

VON THOMAS GROH

Wenn Hirne aus Schädeln spritzen, Kettensägen röhren, posende Machos ihre Knarren ausrichten und junge Frauen vor ihren Häschern fliehen, während sich ein amüsierwilliges Publikum dazu lautstark die Schenkel klopft, gastiert das Fantasy Filmfest in der Stadt. Mag man sich auch darüber wundern, dass das demonstrative Amüsement bei ordentlich Blut und Beuschel den Leuten noch immer nicht fad geworden ist, stellt das blutigste Filmfestival Deutschlands doch immerhin eine jährlich dankbar angenommene Abwechslung im ansonsten sehr um Geschmackssicherheit und soziale Abgrenzung bemühten Festivalbetrieb dar, die zudem noch an die proletarischen Jahrmarkt-Wurzeln des Kinos zurückführt: Sensationen und Spektakel gibt es hier zuhauf.

Und obendrauf eben doch auch immer wieder, zwischen den üblichen Sauereien meist gut versteckt, die zwei, drei insbesondere auch ästhetisch wagemutigen Beiträge, die auch den cinephilen Snob in die Kinogrotten am Potsdamer Platz locken sollten, weil sie eben mehr bieten als bloß deftige Hausmannskost für Freunde von Grobgeschnetzeltem, weil sie dessen Vorgaben aufgreifen, damit arbeiten, transzendieren und offen das Bündnis mit der Filmkunst suchen, ohne sich anzudienen. Jonathan Glazers im Ausland bereits in höchsten Tönen gefeierter „Under the Skin“ etwa, den der hiesige Lizenznehmer Senator skandalöserweise tatsächlich ohne regulären Kinostart im Homevideo-Markt versenken will, ist hier nun glücklicherweise dort zu sehen, wo dieses visuell berauschende, hochkonzentrierte Meisterwerk des zeitgenössischen Science-Fiction-Films hingehört: auf der ganz großen Leinwand. Völlig frei von den Konventionen des Erzähl- und Erklärkinos schlafwandelt dieser Film durch die schottische Provinz, ganz dicht an Scarlett Johansson, die hier als entrücktes, befremdet in diese Welt schauendes Alien einen Mann nach dem nächsten aufgabelt, um sie einem rätselhaften Schicksal zu überantworten. Glazer macht aus diesem Stoff einen so minimalistischen wie meditativen Ambient-Bilderbogen, der die Begrenzungen bloß fabulieren wollender Filme weit hinter sich lässt und konsequent auf die Freiheit eines ästhetisch und künstlerisch souveränen Kinos insistiert. Eine berückende ästhetische Erfahrung, die all jene Lügen straft, die die Kunst des Kinos bereits an ihr Ende gekommen sehen.

Oder der schön betitelte „The Strange Color of your Body’s Tears“ von Hélène Cattet und Bruno Forzani, die darin ihr in dem als Giallo-Hommage getarntem Experimentalfilm „Amer“ entwickeltes ästhetisches Instrumentarium noch verfeinern und sich ganz frei von postmodernem Clevertum in der Ästhetik des italienischen Genrefilms der 70er Jahre bewegen, ohne diese bloß nachzustellen: Ein Mann verirrt sich hier, auf der Suche nach seiner verschwundenen Frau, nicht nur in einem labyrinthischem Jugendstil-Haus, sondern auch in den Windungen seiner eigenen schizophrenen Persönlichkeit. Dazu lassen Cattet und Forzani kaum ein stilistisches Gestaltungsmittel ungenutzt: Split-Screens, Ultra-Close-ups – insbesondere auch akustische –, die expressive Farbsetzung, die hochassoziative Montage und das dem Essay- und Experimentalfilm entlehnte Mittel des Foto-Filmromans machen aus „The Strange Colors?“ einen sagenhaft sinnlichen, zuweilen ganz buchstäblich unter die Haut gehenden Trip in die mentalen Zwischenbilder-Reiche des Kinos, wo Sigmund Freud und C. G. Jung einen schon hinter jedem Schnitt erwarten – ob der nun quer durch den Film oder durch eine Kehle geht.

Schön zudem, dass sich mit der restaurierten Fassung von Jean Epsteins surreal entrückter Poe-Verfilmung „The Fall of the House of Usher“ aus dem Jahr 1928 gewissermaßen ein Urahn solcher ästhetisch hochstehender Filme im Programm befindet. Der so hergestellte historische Kontext unterstreicht eindrücklich, dass sich Genrekino keineswegs auf „more of the same“ beschränken lässt – auch wenn man in den übrigen Vorführungen des Festivals mitunter diesen Eindruck gewinnen mag.

■ Fantasy-Filmfest: Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77, 27. 8–2. 9., Infos: www.fantasyfilmfest.com