WAS FRANZ HESSEL NOCH NICHT AHNEN KONNTE
: Erinnerungsübung

VON DIRK KNIPPHALS

WESTWÄRTS, HO!

Tut mir leid, dafür reicht meine Fantasie nicht aus. Berlin-Schöneberg, Potsdamer Straße Ecke Pallasstraße. Dass genau hier einmal tatsächlich der Sportpalast gestanden haben soll, das wusste ich zwar schon vorher, aber das kann ich mir beim besten Willen immer noch nicht vorstellen, wenn ich den Blick an dieser Kreuzung (die ich tagtäglich auf meinem Fahrradweg zur taz überquere) schweifen lasse. Dass der Sozialpalast, diese Wohnmaschine für 2.000 Menschen, die sie in den Siebzigern an diese Stelle gesetzt haben, einmal als Modell eines modernen Wohnens gelten sollte, übrigens auch nicht; aber das ist eine andere Geschichte.

Gerade ist Franz Hessels Klassiker „Spazieren in Berlin“ noch einmal in schöner Ausstattung herausgekommen – Verlag für Berlin-Brandenburg, mit einem Geleitwort seines Sohnes Stéphane Hessel –, und ich habe gleich als Erstes die Abschnitte noch einmal durchgelesen, die der Gegend gelten, in der ich wohne. Dem Sportpalast widmet Franz Hessel einige Seiten und auch ein paar grundsätzliche Anmerkungen zur Mentalität des Berliners.

„Wer das Volk von Berlin im Fieber sehn will, versäume nicht, einen Teil der 144 Stunden zu erleben, in denen auf schräger Holzbahn die Fahrer des Sechstagerennens ihre Runden durch die Riesenhalle machen.“ Sechstagerennen also. Dit is – 1929, als das Buch zum ersten Mal erscheint – Berlin! Der Berliner an sich erscheint hier wie ein naiver, sich dem Spektakel ganz hingebender Eingeborenenstamm. Angesichts „der geregelten Raserei da unten“ ist er „ganz Auge und Ohr“, schreibt Hessel. „Er vergisst dich, die Freunde, Beruf und Liebe, Lust und Verdruss.“ „Er fiebert im Massenrausch.“ Franz Hessel bietet dafür auch einen Erklärungsansatz. Berlin ist nämlich in den Zwanzigerjahren noch eine junge Großstadt. „Londoner und Pariser in Sweater und Halstuch ? haben ältere Erfahrungen teils im Sport, teils in Weltstadtfreude überhaupt“. Dagegen der Berliner: „Der ist noch unblasiert“. Hessel, das merkt man noch heute beim Lesen, ist ganz verliebt in diesen direkten, gradlinigen, im Hier und Jetzt lebenden Menschenschlag.

Aber es gilt an dieser Straßenkreuzung auch eine andere, nicht so fröhliche Erinnerungsspur zu bearbeiten. Denn als nachgeborener Mensch verbindet man mit dem Wort Sportpalast noch einen ganz anderen Massenrausch als das Sechstagerennen. Wenn man hier ein wenig herumläuft, kann es halt gut sein, dass man irgendwann genau an dem Platz steht, an dem die Tribüne stand, von der aus Joseph Goebbels 1943 seine „Wollt ihr den totalen Krieg“-Rede gehalten hat. Man zuckt beim Flanieren richtig zusammen, wenn man sich das überlegt.

Die Rede konnte Franz Hessel noch nicht kennen. Aber für sein Buch beobachtet er auch schon eine große Sportpalast-Kundgebung der Nationalsozialisten – und ein paar Tage später eine Kundgebung der Kommunisten. Hessel: „Wenn sie nicht ihre Abzeichen trügen, Orden der Reaktion oder Revolution, sie wären kaum zu unterscheiden, die kecken Berliner Jungen aus beiden Lagern.“ Und man stutzt dann schon, dass Hessel – gerade einmal vier Jahre vor 1933! – noch schreiben konnte: „All das nimmt der Sportpalast mit einer Art riesenhafter Gutmütigkeit in seine runden Weiten.“ Das Wort Gutmütigkeit würde einem als Nachgeborener natürlich nie und nimmer mehr zum Goebbels-Auftrittsort Sportpalast einfallen.

Was man aber vor allem von heute aus kaum noch nachvollziehen kann, ist noch etwas anderes: dass diese Kreuzung hier einmal tatsächlich Zentrum war, Brennpunkt des Lebens. Dass einmal Menschenmengen hier in voller Aktion zu bestaunen waren – und Feuilletonisten das dann auch gemacht haben und davon grundsätzliche Einsichten ableiteten.

Heute sind die Straßen hier Durchgangswege – Hauptstrecke in den Südwesten Berlins. Und das Leben steckt nicht in Rennen oder Kundgebungen, sondern im Detail. Auf die Idee, grundsätzliche Überlegungen über „den“ Berliner loszuwerden, würde an dieser Kreuzung keiner mehr kommen. Grundsätzliches liest man eher über die Integration von Migranten, deren erzielte Fortschritte (Quartiermanagement, Jugendarbeit, Kunstprojekte) man an dieser Gegend tatsächlich genauso festmachen kann wie die bleibenden Herausforderungen (Schulsituation und all die Dramen hinter den Kulissen).

Vom Sportpalast aus spazierte Franz Hessel damals zum Kleistpark, ein paar hundert Meter weiter. Was er auch noch nicht ahnen konnte: dass hier einmal Freislers Volksgerichtshof tagen würde. Und dass sich dann 60 Jahre später aber auf den Freiflächen des Parks die Jugendlichen lümmeln und Familien tummeln würden, dass Kinderwagen geschoben werden und Jogger ihre Bahnen in den Rasen frasen. Der Berliner nicht im Fieber, sondern in der Freizeit und beim Zeittotschlagen. Wer heute von dieser Gegend erzählen wollte, müsste vom Nebeneinander ganz unterschiedlicher Eindrücke und Spuren sprechen.