Das Christkind in Rum

Wer als Kind traditionell gebackenen Stollen aß, balancierte auf schmalem Grat: zwischen Wonne und Übelkeit. Eine Suche nach dem verloren gegangenen Ernst bei der Fertigung des ultimativen Weihnachtsgebäcks

VON TILL EHRLICH

Wonne und Ekel liegen bei intensiven Geschmackserlebnissen oft sehr nah beieinander. So ist es auch beim Stollenessen. Genuss und Überdruss markieren die zwei Seiten eines Hochgefühls. Das Genießen des traditionellen Weihnachtsgebäcks liefert zudem einen Mehrwert, wenn man es mit einer besonderen Erinnerung aus der Kindheit verbinden kann. Der Stollen überflutet einen dann mit Erinnerungen, die unausweichlich sind, da sie mit Weihnachten, mit der Welt des Kleinkindes und seinem Ausgeliefertsein in innigen Präsenzmomenten zwangsläufig verknüpft sind.

Weil in deutschen Supermärkten die Weihnachtszeit bekanntlich schon im Spätsommer beginnt, habe ich mein erstes, recht unsentimentales Stollenerlebnis oft schon Ende August. Wenn ich den Stapel abgepackter Industriestollen bei Kaiser’s oder Kaufhof nur von weitem erblicke, werde ich von Reminiszenzen überwältigt. Für den Bruchteil eines Augenblicks kommt dann alles hoch. Einige Jahre lang blieb ich in Berlin von diesem Déjà-vu-Erlebnis verschont. Im Eckladen gab es nie Stollen, nur Panettone, was mir angenehm war, weil Panettone gut schmeckt, aber überhaupt nichts mit mir zu tun hat. Er ist mir so fremd wie gleichgültig. Doch im vergangenen Jahr verschwand der Laden und sein Nachfolger ist ein Bio-Supermarkt, der Stollen schon ab der zweiten Oktoberwoche anbietet.

Man sieht den brotartigen, puderzuckerbestäubten, länglichen Laib – und weiß gleich wieder, wie er riecht, schmeckt und sich im Mund anfühlt. Dabei muss ich dann an die Großmutter denken. Sie ist für mich so etwas wie eine innere Stolleninstanz. Obwohl sie schon lange tot ist, sind mir ihre Stollen unvergesslich. Bis heute gibt es in der Familie die Überlieferung, dass sie eine hartherzige Frau gewesen sei – und zugleich die beste Stollenbäckerin, die es je gab. Die Großmutter war die Mutter des Vaters und somit die Schwiegermutter der Mutter. Sie war, so heißt es, eine böse Schwiegermutter par excellence, die in jeder Hinsicht alle gängigen Klischees erfüllte, die ein böses Weib bedienen kann. Bis auf jene glorreiche Ausnahme: Sie buk den köstlichsten Christstollen von allen.

Das sagte die Mutter, während sie den Teig für den sonntäglichen Käsekuchen in ihrer lindgrünen Emailleschüssel rührte. Sonntags kam meist die Großmutter zu Besuch, um den Käsekuchen der Mutter zu verspeisen. Wortlos. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie ihn je gewürdigt, geschweige denn gelobt hätte. Am Vortag, beim Käsekuchenbacken, weinte dann die Mutter in der Regel schon im Voraus, wenn sie mit mir allein in der Küche war. Sie fuhr sich dann mit der linken Hand durchs gerötete Gesicht, während sie mit der rechten den Käsekuchenteig in der Schüssel weiterrührte. Dabei blieb manchmal ein weißer Klecks Teig in ihrem Haar zurück und in diesem Moment, tränenverschmiert, mit Käsekuchenteig im Haar, war sie noch schöner als sonst. Ich liebte die Mutter und ihre Käsekuchen und hasste die Großmutter. Und liebte zugleich ihre Stollen.

Wir lebten in der Verborgenheit des Ostens, in Dresden. Die Großmutter aber kam aus Leipzig. Sie war eine stolze Frau großbürgerlicher Herkunft. Es hat ihr zeitlebens keine Ruhe gelassen, dass der Dresdner Christstollen der allgemein Anerkannteste weit und breit ist und als der beste Stollen der Welt gilt. Trotz ihrer hohen Herkunft blieb sie eine Zugewanderte und stand wohl deshalb gegenüber ihren Dresdner Bekannten und Freunden unter einem gewissen Druck zu beweisen, dass sie ihnen nicht nur ebenbürtig sondern überlegen war. Dazu hatte sie sich die Königsdisziplin des Dresdnerischen auserkoren, den Christstollen.

Bis in die frühen 1970er Jahre war Stollen in Sachsen vornehmlich eine Familienangelegenheit. Wer etwas auf sich hielt, überließ das Stollenbacken nicht den Bäckern. Jede Familie hatte ihr so genanntes Familienrezept, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben und perfektioniert wurde. Man besuchte sich, brachte gegenseitig selbstgebackenen Stollen mit, der dann kritisch fachsimpelnd verkostet wurde. Von der Qualität des Stollens hing in Dresden auch ein Teil des Rufes ab, den jemand innehatte. Heute ist das schwer nachzuvollziehen, weil diese Welt der Innerlichkeit und damit die Heiligkeit des Stollens auch in Dresden längst versunken und vergessen ist.

Die Großmutter kam aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie und war im Ersten Weltkrieg verwaist, hatte das gesamte Familienvermögen verloren und war ins Kleinbürgertum abgestiegen. Doch ihr Stollenrezept war ein großbürgerliches und ihr Stollen sozusagen der letzte Trumpf, mit dem sie sich Advent für Advent von ihrer neuen kleinbürgerlichen Lebenswelt in aller Stille abzuheben verstand.

Nie buk die Großmutter den Stollen zu Hause, sondern bei einem Bäcker in einer richtigen Backstube, weil Stollen mit einem gewöhnlichen Haushaltsherd nicht erfolgreich gebacken werden kann. Die Hitze ist zu trocken. Der Trick besteht darin, dass die Bäcker vor dem Stollen Brot backen, das im Ofen Feuchtigkeit hinterlässt. Stollen braucht feuchte Hitze, sonst misslingt er. „Ein missratener Stollen bringt der Familie Unglück“, orakelte die Großmutter.

Der Backtag war stets Anfang Dezember, den die Großmutter bereits im November reserviert hatte. Vier Wochen vor diesem Tag begann sie mit der Vorbereitung, trug die Zutaten zusammen, häutete und hackte süße und bittere Mandeln kiloweise und tränkte Rosinen mit Rum. Am Abend vor dem Backen wog sie alle Zutaten penibel ab und verstaute sie in Körben, die sie am nächsten Morgen um acht Uhr in die Backstube wuchtete. Nur das Mehl kam vom Bäcker. Fürs Backen musste sie ein geringes Backgeld zahlen, das für fünf große Stollen etwa eine Reichsmark und später eine DDR-Mark betrug.

Wenn die Großmutter in der Backstube eintraf, waren auch all die anderen Frauen da, die sich dort jedes Jahr am Backtag trafen. Der Bäckermeister gab jeder eine große Mulde aus Aluminium und begann unter kritischen Frauenblicken den Teig zu kneten, jede Frau hatte ihren eigenen. Es ist ein Hefeteig, der dann mit Unmengen Fett und allem, was früher als edel und gut galt, vermengt wird: Mandeln, Rosinen, Muskatblüte und diverse kandierte Zitrusschalen wie Orangeat und Zitronat. „Marzipan gehört niemals in den Stollen“, sagte die Großmutter stets apodiktisch, denn ein guter Stollen sei selbst ein Marzipan.

Eigentlich ist der Teig viel zu überladen, und die Kunst des Stollenbackens besteht darin, dass er dennoch gelingt. Das Fett besteht aus einer Mischung von Schweineschmalz, Rindertalg und Butterschmalz. Das Fett gibt dem barocken Backwerk nicht nur Schwere, sondern auch Saftigkeit. Zudem ergibt die Mischung dreierlei tierischer Fette den besonderen Geschmack. Das Schlimmste für die Großmutter war Margarine, die sie als künstliches Produkt und Fettersatz strikt ablehnte – nicht einmal im Krieg, so betonte sie, habe sie mit Margarine gebacken.

Die so genannten Vierpfünder galten als ideal, weil diese Größe die saftigsten und wohlschmeckendsten Exemplare hervorbrachte. Die Großmutter buk nur Vierpfünder. Bevor der Bäcker unter strenger Aufsicht der Frauen die Stollen in den Ofen schob, wurde in jeden ungebackenen Laib ein Aluminiumschild mit dem Namen gesteckt, um Verwechslungen auszuschließen. Wenn die Stollen gebacken waren, schickte der Bäckermeister die Frauen fort, denn nun mussten die fertigen Stollen auskühlen und ruhen.

Frischer Stollen ist zerbrechlich. Erst abends kam die Großmutter zurück, wickelte die Stollen behutsam in Leinentücher und verstaute sie vorsichtig auf einem Leiterwagen mit Holzrädern, den sie dann klappernd hinter sich nach Hause zog. Es war derselbe Leiterwagen, mit dem sie als Ausgebombte ihr „letztes Hab und Gut“, wie sie sagte, in Sicherheit gebracht hatte. Die Stollen mussten auf dem Balkon der Großmutter in einer Zinkkiste drei Wochen lang „durchziehen“, dabei entwickelten sie ihr einzigartiges Aroma.

Der erste Christstollen wurde an Heiligabend angeschnitten, nach der Messe. Keinen Moment früher. Das ging noch zurück auf die katholische Zeit vor der Reformation, als mit Stollen das Ende des sechswöchigen Adventsfastens gefeiert wurde. Der Stollen enthielt immer irrsinnig viel Fett und Süße. Es war eine Völlerei, die letzte des Jahres, die zudem kirchlich erlaubt war.

Trotzdem musste man sich mäßigen, weil man schnell Brechreiz bekam, wenn man zu viel davon aß. Die Kunst bestand darin, nur so viel zu essen, dass einem zwar leicht, aber nicht speiübel wurde, was ein schmaler Grat war, denn die Stollen der Großmutter strotzten nur so vor schierem Fett. Auch duldete sie nicht, dass der Stollen zerkrümelt wurde. Die rumgetränkten Rosinen durfte man nicht herauspicken, weil sie die Frucht sind und das Christkind symbolisieren. Der Teig dagegen war der überquellende Mutterkuchen. Daher durfte die Frucht nicht vom Teig getrennt und der Stollen, das göttliche Geschenk, niemals zermatscht werden. Deswegen schnitt ihn die Großmutter in schöne gleichmäßige Scheiben. Der letzte Stollen reichte tief ins neue Jahr hinein, und das bedeutete, dass ich bei jedem Besuch der Großmutter Stollen essen und loben musste, bis weit nach Ostern.

Der Niedergang des Dresdner Christstollens begann, als die Bäcker nicht mehr die Frauen backen ließen und viele Frauen wohl auch keine Lust mehr auf die mühsame Prozedur hatten. Die Bäcker verdienten ein Vielfaches, wenn die Frauen nicht bei ihnen buken, sondern fertige Stollen kauften. Das war der Fortschritt in den 1970er Jahren. Gleichzeitig kauften immer mehr Dresdner die Industriestollen vom „Volkseigenen Backkombinat Dresden“.

Als die Familien in Dresden aufhörten, Stollen zu backen, gingen die tradierten Rezepte verloren. Und es etablierte sich die Unsitte, den Stollen lange vor Weihnachten zu essen. „Wenn der Stollen vor Heiligabend angeschnitten wird, stirbt jemand in der Familie“, hatte die Großmutter immer gedroht.

Sie hatte auch ihrem Bäcker nie getraut. Er hatte ihr wohl einmal gesagt, Rum sei viel zu schade, dass man Rosinen mit ihm tränke, sie solle stattdessen künstliches Rumaroma nehmen, das sei genauso gut, nur billiger. Daraufhin soll der Großmutter die Zornesröte ins Gesicht gefahren sein. Zudem war ihr der Bäcker immer zu knauserig mit dem Fett und den Mandeln. Mit ihrem Argwohn sollte sie Recht behalten. Die Dresdner Bäcker haben den Stollen den Bach runtergehen lassen. So wie sie auch das Brot und die guten Semmeln mit industriellen Backmischungen zugrunde gerichtet haben, wurde der einst kostbare Stollen entwertet und in ein meist übersüßes, trockenes und künstlich aromatisiertes Etwas umgemodelt, das heute oft nur noch ein Schatten des Originals ist.

TILL EHRLICH, 42, ist Autor und lebt in Berlin. Dort erleidet der Stollen einen Sexchange und wird seltsamerweise „die Stolle“ geheißen