„Es geht um Überschreitungen“

Ist Psychoanalyse noch subversiv – oder zur Herrschaftstechnik verkommen? Hat der Popsong die Nachfolge der Psychoanalyse angetreten? Ein Gespräch mit Klaus Theweleit über Hirnforschung und Sigmund Freud

taz: Herr Theweleit, Sie schreiben, dass das Subversive der Psychoanalyse im Popsong weiterlebt. Was heißt denn heute noch „subversiv“?

Klaus Theweleit: Ersetzen wir subversiv durch Transgression, Überschreitung. Bei Sigmund Freud ist es die Urüberschreitung dessen, was das europäische Subjekt sich an Rationalität und Aufgeklärtheit erkämpft zu haben glaubte. Die Urüberschreitung Freuds besteht in der Entdeckung, dass die Steuerung vom Unbewussten ausgeht und Zustände wie gesteigerte Lust, Trance, Rauscherfahrungen sich der bewussten Steuerung entziehen.

Der Bürger Freud als Modell für Grenzerfahrungen?

Selbst wenn er ein normales bürgerliches Leben geführt hat, steht er theoretisch für das – er war der Denker der Überschreitung. Sein Denken selbst war eine ständige Transgression.

Und das ist auch das Prinzip Pop?

Angefangen bei dem Satz, die Rockmusik richte sich direkt an die Genitalien. Sie zielt direkt auf das Ausgeschlossene, Verbotene. Mit ihr kommt die sexuelle Übertretung in die Sphäre des Möglichen – und zwar massenhaft bei den Jugendlichen.

Das klingt, als wäre das Subversive, Überschreitende von der Psychoanalyse in die Popmusik gewandert. Wenn ja – ist damit nicht der Psychoanalyse der Zahn gezogen?

Ganz verschütt ist es nicht gegangen. Aber natürlich gibt es in der professionellen, medizinischen Psychoanalyse eine Domestizierung. Sie wurde in Regeln gefasst, geriet unter die Kontrolle der Krankenkassen. Sie wird dann wie eine Dienstleistung behandelt, von der man bestimmte Effekte auf den Kranken erwartet – Arbeitsfähigkeit, gesellschaftliche Eingliederung.

Mehr noch: Die Grenzüberschreitungen, die Sie preisen, stehen im Gegensatz zum Subjekt, das effizient funktioniert.

Das liegt im Widerstreit. Andererseits: Es gibt diesen anpasslerischen öffentlichen Diskurs, aber der muss nicht immer mit der psychoanalytischen Praxis übereinstimmen.

Sie illustrieren, wie sich Pop und Psychoanalyse kreuzen. Pop suspendiert das Bedeutungsschwere – auch in der Psychoanalyse ist das Nebensächliche bedeutend. Beginnt mit Freud der Abschied vom vordergründig Substanziellen?

Das Nebensächlichste kann das Bedeutendste sein. Sogar das Sinnlose kann das Bedeutendste sein. In Pop und in der Psychoanalyse taucht der gesamte Wahn des Wirklichen auf, und ob etwas bedeutend ist oder nicht hängt davon ab, welche Affekte es auslöst.

Für einiges Aufsehen sorgte zuletzt diese erstaunliche Wertschätzung, die die Psychoanalyse durch die moderne Neurobiologie erfährt. Kann man den Nutzen der psychoanalytischen Technik heute durch positive Wissenschaft beweisen?

Es gibt eine Rehabilitierung Freuds. In den 80er- und 90er-Jahren hat man sich sehr über die Psychoanalyse lustig gemacht, so wie das früher jene Chirurgen mit der Religion taten, die sagten: ja, die Seele, die können wir nicht finden. Mit den neuen neurobiologischen Verfahren kann man die Geschehnisse in den Zellstrukturen des Gehirns erforschen und es zeigt sich, dass Freud in vielem recht hatte. Nur, so überraschend ist das nicht: Freud ist Neurologe gewesen. Am Ursprung der Psychoanalyse stand die Erkenntnis, dass die Hirnforschung nicht weit genug ist, um an die entscheidenden Antworten heranzukommen. Jetzt nähern sich die Hirnforscher dem Freud’schen Denken, sehen, dass das Unbewusste steuert. Sie übertreiben dabei sogar.

Sie meinen damit das Postulat, dass es den freien Willen nicht gäbe und wir durch die neuronalen Schaltungen und durch die Architektur unseres Gehirns determiniert seien?

Ja. Das ist natürlich Quatsch. Alle Erfahrung zeigt, dass Menschen bewusst Willensentscheidungen treffen – beispielsweise können sie sich an Gesetze halten.

Die Gehirnforschung zeigt aber, dass Erfahrungen, Lernen, die Architektur unseres Gehirns verändern. Wenn ich mit Ihnen rede, verändern Sie die Struktur meines Gehirns.

Neue Verschaltungen werden gelegt, Vorhandene werden verstärkt. Wovon die Gehirnforschung sich wegentwickelt, ist die Vorstellung der Biologie des Gehirns – dass bestimmte Aufgaben wie Sprechen, Hören in bestimmten Regionen des Gehirns lokalisiert seien. Das Bewusste, das Unbewusste, „lokalisiert“ sich eher in wechselnden Verschaltungen, die dauerhaft werden können – das ist sehr stark beeinflussbar. Das Gehirn ist also sozial geformt. Einzelne Hirnpartien sind für einzelne – etwa motorische – Aufgaben zuständig, aber das gesamte emotionale, intelligente Leben wird durch viel kompliziertere Verschaltungen konstituiert. Das Biologistische tritt in den Hintergrund.

Was bedeutet das denn für all die Klischees von „Natürlichkeit“, wenn sogar schon die Architektur unseres Gehirns nichts Gegebenes, sondern gewissermaßen „künstlich“ ist? Erweist sich die Differenz natürlich/künstlich damit endgültig als absurd?

Ja. Die Unterscheidung von verschiedenen Realitäten, von psychischer Realität, virtueller Realität wird genauso absurd – weil die ineinander übergehen. Keine Realität ist realer als die andere. Alle diese Realitäten verändern etwas in uns – ich gehe so weit zu sagen, dass sie Körperveränderungen auslösen. Wir wissen heute, dass sogar die Genfunktionen durch Erfahrung und Erlebnisse ausgelöst werden.

Also: Der Psychoanalytiker, Popmusik, Film, sie alle verändern uns – auch körperlich.

Filme haben immer Zwischenräume. Filmemacher haben das als „das dritte Bild“ thematisiert. Wir kennen das alle von Leuten, die gemeinsam im Kino waren und sich über einen Film unterhalten – man glaubt, die haben einen anderen Film gesehen. Das Bild, das wir sehen, ist das Bild, das wir machen, aber wiederum auch ein Bild, das uns macht. Die Übertragung von Analytiker und Patient in der Psychoanalyse funktioniert ganz ähnlich wie die Übertragung von Kamera, Projektor, Gehirn im Film oder wie Mikrofon, Lautsprecher, Ohr in der Musik. Viele Analytiker haben das noch nicht begriffen, weil sie die Psychoanalyse als „Humanwissenschaft“ sehen – und in diesen gibt es eine traditionelle Technikfeindlichkeit. Wenn die Psychoanalyse etwas mehr Interesse an Technologie gewänne, würden sich ihr neue Zukunftschancen eröffnen.

Die Kulturkritik zieht daraus den oft depressiven Schluss, dass durch Herrschaftstechniken und Marketing ein immenser Zugriff auf das Unbewusste möglich ist. Alles Paranoia?

Das ist ein bisschen wie mit den Stasi-Akten – wenn man von allen Leuten, die rumlaufen, Aufzeichnungen macht und die in einen Schrank tut, dann hat man so viel gesammelt, dass diese Aufzeichnungen niemand mehr lesen kann. Es werden so viele Einflussversuche medial auf uns abgefeuert, dass gesteuerte Kontrolle schwer machbar ist – diese Techniken blockieren sich teilweise gegenseitig. Werbung schafft keine ferngesteuerten Menschen, das wissen wir. Jetzt wird das den Technologien unterstellt, die wir noch nicht so genau kennen, der Nanotechnologie etwa. Die neue alarmistische Frage lautet: Was denn, wenn da Teile, die mikroskopisch gar nicht wahrnehmbar sind, in uns eingepflanzt werden? Die Paranoia hat eine große Zukunft.

INTERVIEW: ROBERT MISIK