Schrill, hoch, dann wieder tief

POP Die Berliner Nacht kann man sich kaum mehr ohne die Musikerin Mary Ocher vorstellen. Nun erscheint ihr erstes Soloalbum „War Songs“

Eindrucksvoll interpretiert Ocher ihre Lieder in verschiedenen Stimmlagen

VON ELISE GRATON

Mary Ocher ist trotz ihrer zarten 24 Jahre bereits ein alter Hase in der Berliner Musik- und Clubszene. Es gibt heute kaum mehr eine Bühne in der Metropole der deutschen Subkultur, die sie nicht zumindest einmal betreten hat. Zuletzt spielte sie in der Flittchenbar, einer Institution in Berlin-Kreuzberg für Frauen, die Musik machen und gerne hören.

Vor Mary Ochers letztem Auftritt Ende Februar haben an diesem Abend bereits zwei Bands das Publikum bespaßt. Aber es herrscht immer noch lautes, unkonzentriertes Stimmengewirr, als sie sich dann endlich ans Mikrofon stellt.

Sie ist eingepackt in eine schwarze, mit Nägeln gespickte Lederjacke, die zu ihren blau geschminkten Lidern und Lippen gut passt. Ins Publikum schaut sie durch eine dicke Brille mit weißem Gestell, die ihr rundes Gesicht bis zur Hälfte verdeckt und starke Kurzsichtigkeit vermuten lässt. „Wow, viele Leute“, murmelt sie auf Englisch, wie verschüchtert. Sie hängt sich eine akustische Gitarre um den Hals und holt einen kleinen, zerknüllten Zettel aus ihrer Jackentasche, in dessen Lektüre sie für ein paar Sekunden versinkt.

Sodann haut sie kraftvolle Akkorde aus ihrem Instrument, und ihr klarer Gesang schallt resolut durch den Raum. Dabei wirkt sie wie eine mutierte Nachtigall – schräg, aber doch nicht ganz unvertraut: Ihr Vortragsstil erinnert an den US-amerikanischer Singer-Songwriter aus den späten 1960er Jahren.

Ocher ist selbst verantwortlich für Text und Musik ihrer Lieder. Ein paar Aufnahmen produzierte sie bereits im kleinen Heimstudio, bis Fred Fröse letztes Jahr bei einem viel zu wenig besuchten Konzert in einer viel zu großen Halle auf sie aufmerksam wurde.

Von ihrem dennoch souveränen Auftritt beeindruckt, bot er ihr an, sie bei seinem Label Haute Areal unter Vertrag zu nehmen. Herausgekommen ist nun ihr erstes Soloalbum. „War Songs“ heißt es, ein Konzeptalbum und, wie sich leicht entschlüsseln lässt, dem Krieg gewidmet.

Als Mariya Ocheretianskaya wurde sie 1986 in Moskau geboren. Aufgewachsen ist sie dann in Tel Aviv. Vor vier Jahren schloss sie sich der Berliner Boheme an (oder dem, was dafür gehalten wird) und performt seitdem bei jeder Gelegenheit mit ihrer Band – Mary and The Baby Cheeses. Aber eben auch oft alleine.

Mary Ochers Protestsongs handeln nicht direkt und ausschließlich von dem israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt, sondern vielmehr von den raffinierten Mechanismen, den sozialen Umständen, von Gruppenzwang und falschen Vorbildern, die zu ungerechten Kriegen überall, immer und ewig führen werden.

Nicht zufällig bedient sich Ocher sowohl des Pathos moderner Krieger als auch der Mythologie des US-amerikanischen Wilden Westens, etwa in ihrem Lied „Six Dead White Men“, das Bilder von durch die Wüste galoppierenden Männern heraufbeschwört, die Schrecken verbreiten und dennoch sexy und authentisch wirken.

Dead white men, tote weiße Männer, ist in den USA ein stehender Begriff für die Überrepräsentation von Männern in der europäischen Kulturgeschichte. Es scheint, als wolle Ocher das Wertesystem der Eliten hinterfragen und den Ursprung jedes kriegerischen Ethos darin verorten.

Eindrucksvoll interpretiert Ocher ihre Lieder in verschiedenen Stimmlagen: Sie schlägt schrill und hoch, um darauf ganz tief runterzudonnern – und wieder hoch. Auch ihr jetziges Album hört sich folglich wie ein schizophrener Dialog mit verschiedenen Ansprechpartnern an, ja fast wie eine Rockoper. Und schon wieder stehen die HörerInnen mitten in den 1960ern.

„I won’t quiet down“, ich werde nicht leise werden, singt sie gerade, „and you won’t quiet down“, und ihr wohl auch nicht. Der letzte Satz gehört eigentlich nicht mehr zum Lied, den gibt sie eher spontan dem Flittchenbar-Publikum mit auf den Weg, das immer noch laut vor sich hinplaudert.

Mary Ocher lacht, Selbstironie und Zur-Schau-Stellen der eigene Bedeutungslosigkeit gehören auch zu ihrem Repertoire. Aber konzentriertes Zuhören hätte sie schon verdient.

Mary Ocher: „War Songs“ (erscheint dieses Wochenende bei Haute Areal)