Der Kunde als Gratis-Designer

Das Web 2.0 gilt vielen Trendforschern als Reich der Freiheit. Doch vor allem können Firmen rationalisieren und umsonst kreative Ideen der Internetnutzer abschöpfen

Web-2.0-Communities werden etabliert, um die Akzeptanz von Produkten besser einschätzen zu können

Viele Trendforscher und Medien sind euphorisch: Mit dem interaktiven Web 2.0 entstehe eine Kommunikationsform, die an die Marktplätze des antiken Griechenlands erinnere. Jeder kann jedem begegnen und frei seine Meinungen austauschen. Etwas Elementares habe jetzt seine zeitgenössische Form gefunden, schrieb etwa Gero von Randow in der Zeit. Es kommt einem Habermas’ herrschaftsfreier Diskurs in den Sinn.

Keine Frage, das Fieber der Internet-Ökonomie ist wieder da. Spektakuläre Web-2.0-Geschäftsmodelle wie YouTube mit dem Slogan „Broadcast yourself“, MySpace („A Place for friends“) oder in Deutschland studyVZ („Bist du schon drin?“) haben für gigantische Summen die Besitzer gewechselt – die Spanne reichte von geschätzten 50 Millionen Euro bis 1,6 Milliarden Dollar. Aber dieses Geld wurde nicht nur gezahlt, damit sich Internet-User in ihrer Freizeit im herrschaftsfreien Diskurs erproben können. Internet und Web 2.0 sind zuallererst Werkzeuge der globalen Wissensökonomie: Sie ermöglichen ganz neue Formen der betrieblichen Rationalisierung und des kostenlosen Abschöpfens kreativer Kopfarbeit.

Schon bisher hat das Internet zu starken ökonomischen Veränderungen geführt, die durch das Web 2.0 nochmals gesteigert werden. In vielen Bereichen ist es längst Alltag, via Internet Verwaltungsvorgänge auf den Kunden zu überwälzen – etwa bei der Buchung von Reisen, bei Geld- und Paketautomaten, beim Online-Banking und beim Check-in-Center der Bundesbahn oder auf Flughäfen. Es gibt Schätzungen für die USA, wonach manche Konsumenten bereits mit acht bis zwölf Stunden pro Woche ihren unbezahlten Beitrag als Teilarbeitskräfte für die „Self Service Economy“ leisten.

Arbeitssparende Internetanwendungen beschränken sich aber nicht auf „Überwälzungen auf die Quelle des Geschehens“, wie die Managementlehre das nennt. Team- und Arbeitsgruppen sind in Unternehmen mittlerweile weit verbreitet. Anders als in traditionellen, hierarchiegesteuerten Abteilungen sind sie über Zielvorgaben mit einem beträchtlichen Maß an Selbständigkeit und Selbstorganisation ausgestattet. Das ist an sich nicht schlecht, doch diese Teilautonomie ist eine notwendige Vorstufe, um Teams und Mitarbeiter ganz auszulagern.

Was spricht denn gegen das Outsourcing von Arbeit?, lautet die verbreitete Managementauffassung. Das spart Kosten und reduziert die Komplexität der Organisation. Der Angestelltenstatus kann entfallen. Die Ehemaligen lassen sich je nach Projektbedarf auf Honorarbasis wieder anmieten. Dazu benötigen sie keinen Büroarbeitsplatz. Internet und IT-Equipment stellen die Einbindung in die Arbeitsorganisation jederzeit unkompliziert her. Soll der „Management-Overhead“ für das Unternehmen zusätzlich reduziert werden, so wird man den „Outgesourcten“ auch noch die Koordination der Projektgruppe überlassen. Der bisher beste Schutz vor Arbeitsplatzverlust, die Restriktionen Ort und Zeit, tragen im Zeitalter des Internet nicht mehr.

Das Modell Outsourcing ist zu überbieten, wenn Büro- wie Handwerkerarbeiten per Internetauktion „geringstbietend“ versteigert werden. Der französische Journalist Pierre Lazuly nennt dies „Webshoring“. Qualität und Leistungen des Programmierers, Grafikers, Redakteurs, Übersetzers, Anwalts oder der Schreibkraft lassen sich wie bei eBay durch Punkte der Arbeitgeber bewerten. Der Reiz dieses Modells für Volkswirte dürfte in der Herstellung des Ideals der fast vollkommenen Konkurrenz liegen. Setzt sich dieses Modell durch, so gilt auch hier „Geiz ist geil“, besser mit „the worker is the loser“ (Verlierer ist der Arbeitnehmer) zu übersetzen.

Diese neue Selbständigkeit kann den Solo-Unternehmern durchaus mehr Freiheit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung bringen. Aber bei allem Reiz, der sich ja bereits in der schwärmerischen Metapher „digitale Boheme“ ausdrückt, ist das Solo-Unternehmertum häufig kein freiwilliger Status. Er ist oft mit geringer Sicherheit und unzureichender Auslastung verbunden.

Die sich angeblich massenhaft verbreitende Telearbeit im Angestelltenverhältnis war über zwei Jahrzehnte das Lieblingsthema der Trendforscher. Damit lag diese Branche jedoch komplett daneben. Empirische Untersuchungen der amerikanischen Sozialwissenschaftlerinnen Orlikowski und Barley zeigen, dass die Verbreitung der IT in Privathaushalten nicht in dem erwarteten Maße dazu geführt hat, Büroarbeit durch Telearbeit zu ersetzen (substitute). Viel stärker ist der Trend, „office work“ über die Arbeitszeit hinaus mit nach Hause zu nehmen. Es wird also Arbeit draufgesattelt (supplement). Im Ergebnis trägt das Internet dazu bei, die Arbeitszeit zu verlängern. Die Bereitschaft dazu ist in Zeiten knapper Arbeitsplätze groß.

Überwälzen, Verlagern, Draufsatteln! Das Internet lässt jedoch noch Steigerungen zu, wenn es gelingt, Menschen freiwillig zu kostenloser Mitarbeit zu bewegen. So setzen etwa große Softwarekonzerne ihre neuen, noch fehlerhaften Programmversionen – die Betaversionen – in der Erwartung ins Freiland, dass begabte Programmierer dies als sportliche Herausforderung verstehen, Programmfehler suchen und schnell an den Softwarehersteller zurückmelden.

Manche Konsumenten „arbeiten“ bis zu12 Stunden pro Woche unbezahlt für die Self Service Economy

Das kostenlose und freiwillige Abschöpfen von Kopfarbeit hat jetzt durch das Web 2.0 ein ideales interaktives Medium. Web-2.0-Communities werden von Unternehmen nicht nur etabliert, um die Akzeptanz ihrer Produkte ohne aufwändige Marktforschung besser einschätzen zu können. Sie sind so auch in der Lage, wie beispielsweise die Firma Lego, ihre Entwicklung zu rationalisieren, indem sie Konsumenten in die Produktentwicklung einbeziehen. Warum viele Designer, Kreative, Ideengeber oder Programmierer beschäftigen, wenn die Freaks weltweit auch freiwillig tätig werden und dafür nur ein „Vergelt’s Gott“ verlangen – heute in der zeitgemäßen Form eines Awards oder einer Namensnennung auf dem mitentwickelten Produkt („Co-designed by Willi Müller“).

Damit der Einzelne zum bloßen „Jäger“ oder auch unbemerkt zum Zuträger für professionelle Sammler wird, reichen schon E-Mail- und SMS-Technologie aus. Die Sammler verwerten diese Informationen kostenlos. In Zukunft könnten Zeitungen nach diesem Geschäftsmodell funktionieren. Leserreporter steuern Fotos, Videos und Texte bei; Redakteure wählen aus. In diese Kategorie fallen auch Internetfirmen, die vorhandenes Wissen aggregieren und daraus ein neues Produkt generieren. Dies ist im Kern auch das Geschäftsmodell Google.

Mit Internet und Web 2.0 treibt eine Avantgarde von jungen, kreativen Leuten Innovationen voran. „Open“ oder „User Innovations“ lauten die neuen Metaphern. Nur werden sie wie die Open-Source-Bewegung in der Regel ziemlich schnell „kommerziell eingemeindet“. Es ist heute der fast schon übliche Weg, wie Innovationen in der Wissensökonomie zustande kommen. ARNO ROLF