Der gute linke Mann und die Abfalllogistik

INTEGRATIONSFIGUR Uwe Timm tut so, als schreibe er eine Novelle, und huldigt Arno Schmidt: „Freitisch“

Eine wunderbare Idee: der ehemalige Schmidt-Jünger gibt seine schriftstellerischen Pläne auf und macht jetzt in Müll

VON FRANK SCHÄFER

Von Arno Schmidt kann man nichts lernen – jedenfalls nicht als Schriftsteller. Möglicherweise sind die Wege, die er eingeschlagen hat, Sackgassen gewesen, aber immerhin hat er sie bis zum Ende abgeschritten. Man wird kaum über das hinausgehen können, was er sich sowohl in den grammatischen Dimensionen (Orthografie, Interpunktion, Syntax) als auch in der psychologischen Dimension der Sprache (dem Entschlüsseln ihres unbewussten Subtexts) angemaßt bzw. auf sich genommen hat, jedenfalls nicht ohne in die avantgardistische Öde und Unlesbarkeit abzusinken.

Denn das ist die eigentliche „Sensation“ dieses Werks, wie Peter Rühmkorf schon früh bemerkt hat: die „Mischung aus Wucht und Feinziselierung“. „Seelandschaft mit Pocahontas“, „Aus dem Leben eines Fauns“ und „Das steinerne Herz“ sind eben bei aller formalen Ambition und experimentellen Attitüde auch zupackend und durchaus spannend erzählt.

Uwe Timm schreibt nun eine längere Erzählung, die er Novelle nennt und dann auch mit den entsprechenden Gattungsformalien ironisch ausstaffiert (Falken tauchen hier gleich mehrfach auf), die sich aber eher wie eine Hommage an die Kurzromane Schmidts liest. Es gibt hier gerade keinen scharf konturierten Plot, der unerbittlich und stringent und im objektiven Berichtsstil abgespult wird. „Freitisch“ ist eine dieser mäandernden, immer wieder mit längeren reflexiven Abschweifungen versetzten, mit Bildung prunkenden, aber auch keine witzige Anekdote und keinen Kalauer scheuenden Ich-Erzählungen, wie man sie – so ähnlich – auch von Arno Schmidt kennt. Es ist eine Schmidt-Huldigung auf mehreren Ebenen.

Zunächst ist Schmidt ständiges Thema im Gespräch der vier Studenten, einem Juristen, einem schreibenden Mathematiker, einem angehenden Schriftsteller und dem später als Deutschlehrer sein Leben fristenden Ich-Erzähler, die in München Mitte der sechziger Jahre am titelgebenden Freitisch einer spendablen Versicherung sitzen und sich die Köpfe heiß reden über die langsam in Fahrt kommenden Zeitläufte. Für sie wird der „gute linke Mann“ aus der Heide ein paar Monate lang zur Integrationsfigur. Und schließlich überredet der Mathematiker, ein echter Addict, der dem Meister hinterherzuschreiben versucht, den Erzähler, nach Bargfeld zu pilgern, wo dann zumindest der Fan die gewünschte Audienz bekommt, die der alte Grantler auch gleich zum Anlass nimmt, dessen belletristische Versuche in der Luft zu zerreißen. Man kann von Schmidt nichts lernen. Timm untermauert das mit einer hübschen ironischen Volte. Der angehende Schriftsteller Falkner, der von Schmidts Sprachfuror eher abgestoßen ist, reüssiert später tatsächlich, während der Schmidt-Epigone Euler seine schriftstellerischen Pläne ganz aufgibt – und stattdessen die Abfalllogistik revolutioniert. Wunderbare Idee, der ehemalige Schmidt-Jünger macht in Müll!

Über vierzig Jahre später treffen sich Euler und der Erzähler wieder, in Anklam, dem Ruhesitz des Lehrers. Dort will Euler eine Giftmülldeponie errichten lassen, gleich vor der Haustür des einstigen Kommilitonen. Und noch einmal sitzen sie zusammen zu Tisch, halten nostalgisch Rückschau. Das ist der erzählerische Rahmen, den man als Reflex auf Schmidts „Stürenburg-Geschichten“ lesen könnte, wobei die ironisch-betuliche Rahmenerzählung dort ebenfalls bereits eine humoristische Adaption der Gattungskonventionen der Novelle ist. Leben und Werk Arno Schmidts jedenfalls liefern das Material für den doppelten Boden dieser Erzählung, die so voller Anspielungen steckt, als wollte Timm auch gleich noch den Schnitzeljägern vom „Bargfelder Boten“ ordentlich was bieten, auf dass die ihren inneren Schweißhund von der Leine lassen.

So ist denn ein durch und durch hybrider Text entstanden, der zumindest die Schmidtianer – und das sind, wie die Neuausgabe von „Zettel’s Traum“ zeigte, erstaunlich viele – im Zwiespalt zurücklässt. Einerseits nämlich umschifft Timm in „Freitisch“ zwar elegant die Klippe der Epigonalität, indem er seine gewohnt liquide und eher zurückgenommene Erzählstimme nicht verleugnet, sie nur mit Referenzen anreichert. Andererseits hat man ständig das Gefühl, für eine richtige Hommage reiche es einfach noch nicht. Timm hätte die Wortschraube noch ein paar Umdrehungen anziehen, die sprachliche „Dehydrierung“ viel weitertreiben müssen. Das hier ist Schmidt mit angezogener Handbremse und somit allenfalls der halbe Spaß.

Uwe Timm: „Freitisch“. Novelle. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 136 Seiten, 16,95 Euro