Das ewige Amerika der Vorstädte

Vorbilder für die „Simpsons“ und Nachbilder des Kalten Krieges: 1950 entwarf der Cartoonzeichner Carles M. Schulz mit seinen „Peanuts“ ein amerikanisches Kinderparalleluniversum. Nun erscheinen die ersten zwei Bände der deutschen Werkausgabe

Die frühen „Peanuts“ handelnvon sozialem Druck, von Machtspielen und dem Gefühl, missachtet zu werden

VON MARTIN ZEYN

Erstes Bild: Charlie Brown geht an einem Jungen und einem Mädchen vorbei. Im nächsten Bild sagt der Junge: „Der gute alte Charlie Brown.“ Im letzten Panel aber stößt er hervor: „Ich hasse ihn so.“ Ein Witz? Mit dieser Bilderfolge, mit dieser harschen punch line beginnt die Geschichte der „Peanuts“.

Brutale Kinder gibt es seit dem Beginn der Comics: beim „Yellow Kid“, bei „Max und Moritz“ oder deren amerikanischem Ableger „Katzenjammer Kids“. Überall finden sich hier Rabauken, die fies, ja brutal agieren. Charles M. Schulz’ „Peanuts“ unterscheiden sich davon grundlegend, wie man den jetzt auf Deutsch vorliegenden ersten zwei Ausgaben der insgesamt auf 25 Bände angelegten Werkausgabe ansehen kann. Die körperliche Gewalt in diesem Strip ist vergleichsweise harmlos: In all den 49 Jahren, in denen der Comic ab 1950 erschien, trägt niemand ernsthafte Blessuren davon. Aber der abgrundtiefe Sadismus, mit dem die Kinder psychologisch geschickt und entsprechend perfide einander quälen und erniedrigen, ist schockierend. Violet geht auf Charlie zu und lädt ihn zu ihrer Party ein. Als dieser verwirrt zusagt, weil er so viel Zuneigung nicht erwartet hat, erwidert sie: „Ach, ich mach’s doch nicht.“ Ein Witz? Ja, ein bitterer und ein folgenreicher. Ohne die „Peanuts“ sind die „Simpsons“, „South Park“ nicht denkbar; bei „Calvin und Hobbes“ gibt es einige Strips, die sich nicht scheuen, direkte Nacherzählung der Vorbilder zu sein.

Sozialer Druck, die daraus erwachsenen Machtspiele und das Gefühl, komplett missachtet zu werden – das sind die Themen der frühen „Peanuts“, und nach eigener Aussage auch die Erfahrungen von Schulz selbst gewesen. Wie so ein depressiver Strip einen Vertrieb finden konnte? Weil vor dem düsteren Hintergrund die Komik deutliche Konturen erhält, wie Matt Groening, Schöpfer der „Simpsons“, anschaulich beschreibt: „Aber diese Dunkelheit wird erhellt durch einen freundlichen Zeichenstil, viele großartige Witze und einen Sinn für kindlichen Überschwang“.

Manchmal sind es grafische Witze, wie etwa die wunderbare Sonntagsseite, auf der Lucy Malen nach Zahlen spielt und im letzten Panel die Augen von Charlie mit einem Strich verbindet. Oder surreale Pointen, etwa wenn Charlie immer wieder versucht, seinen Drachen in die Luft zu bringen. Als es ihm endlich gelingt, explodiert der Drache einfach. Wobei die Pointe eigentlich erst dann funktioniert, wenn einem die auf zahlreichen Seiten vorhergehenden Versuche vor Augen sind. Der Witz als Differenz und Wiederholung.

Ganz am Beginn sind die Zeichnungen noch nicht so ausdrucksstark, die Figuren haben noch keine ausgeprägte Charakteristik, und auch Charlie darf hier noch gemein sein. Erst nach und nach erhalten sie ihr vertrautes Aussehen. Wie Robert Gernhardt im extra für die liebevoll gestaltete deutsche Ausgabe geschriebenen Vorwort bemerkt, kann man zusehen, wie „aus einem begabten ein begnadeter Cartoonist wird“.

Der Titel der Serie stammt übrigens nicht von Schulz, sondern von einem Mann aus dem Vertrieb, der den Strip des damaligen No-Names mit einem in seinen Augen schmissigen Titel versah. „Peanuts – das ist der schlimmste Titel, der je für einen Comicstrip benutzt wurde. Er ist total lächerlich, er hat keine Bedeutung und keine Würde“, schimpfte Charles Monroe Schulz noch Jahrzehnte später in einem Interview über die verpatzte Namensgebung. Nein, er wollte keine peanuts, keine Kleinigkeiten erzählen, immer wieder betonte er: „Ich zeichne nicht für Kinder. Ich zeichne für Erwachsene.“

Der Erfolg war der Serie nicht in die Wiege gelegt. Am Anfang war sie nach Aussage des Schulz-Biografen David Michaelis bloß „Studentenlektüre“, erst in den Sechzigern kam der große Erfolg mit hunderten von Zeitungen, die den Strip abdruckten. Am Ende seines Lebens wurde Schulz, der im Februar 2000 starb, vom Wirtschaftsmagazin Forbes unter den am besten verdienenden Entertainern mit einem Jahreseinkommen von 30 bis 40 Millionen Dollar aufgelistet. Schulz als Versöhner von high and low, als Säulenheiliger der Popkultur?

Der 1922 geborene Autor erschuf ein ewiges Amerika der Suburbs. Das Vorbild war eine Kriegsheimkehrersiedlung: ein Elysium aus kurz geschorenen Vorgärten, schmucken Häusern und Kleinfamilien. So sieht es auf den ersten Blick aus; und selbst Art Spiegelman nannte die „Peanuts“ einmal „niedlich“. In Wahrheit herrschen, wie jetzt an den Wiederveröffentlichungen sichtbar wird, insbesondere bei den frühen „Peanuts“ adoleszente Verzweiflung und Verzagtheit. Etwa die Erniedrigung, wenn Peppermint Petty zwar Charlie anhimmelt, ihn aber immerfort mit falschem Namen anredet. Am schlimmsten erscheint die calvinistische Vergötzung des Erfolgs, die im Umkehrschluss jedes Unglück als göttliche Strafe deklariert. Auch hier ist Lucy – das geheime Kraftzentrum des Strips – die Personifizierung der Gemeinheit, wenn sie den obdachlosen Snoopy anraunzt: „Weißt du, warum deine Hundehütte abgebrannt ist? Weil du gesündigt hast. Du bist bestraft worden für etwas, was du getan hast.“

Das ist ein grausames und kleinliches, fundamentalistisches Amerika. Michel Foucault hat den allgegenwärtigen gesellschaftlichen Druck „Mikropolitik“ genannt, Einfräsungen von Moral und Erziehung, die jeder erfährt und erleidet. Gegen diesen Druck entwerfen Charlie und insbesondere Linus zarte Abwehr- und Fluchtstrategien. Linus, die klügste und verständnisvollste aller Figuren, igelt sich ein mit seiner Schmusedecke und seinem Glauben an den großen Kürbis, der an Halloween erscheinen soll. Hier wehrt sich ein Kind erfolgreich gegen die Zumutungen der Wirklichkeit. Neurosen sind der Preis, und als Lucy ihm einmal die Decke wegnimmt, zeigt er in den kommenden Strips Symptome eines Drogenentzugs. Das „security blanket“ hat Eingang ins Amerikanische gefunden – ein angemessener Ausdruck der Bedrohungsangst in Zeiten von „Star Wars“-Programmen und Raketenabwehrschilden.

Anders als bei berühmten Serien wie „Pogo“ von Walt Kelly oder „Doonesbury“ von Garry Trudeau gibt es in der fast fünfzigjährigen Geschichte des „Peanuts“-Strips nur vereinzelt zeitgeschichtliche Bezüge – die Rede ist dann von Vietnam oder brutalen Polizisten, von Hippies und H-Bomben. Aber Schulz benutzt diese aufgeladenen Vokabeln nicht für politische Statements. Trotzdem macht er damit deutlich, dass die vermeintlich heile Welt der Vorstädte von Rissen durchzogen ist, dass sie einer pastellfarbenen Fassade gleicht, hinter der Verdrängung und Lüge herrschen. Am furchtbarsten mutet deshalb ein Strip von 1957 an, auf dem Linus panisch durch den herabrieselnden Schnee rennt: „Ich dachte, es wäre Fallout.“

Zum Memorial Day von 1993 zeichnet Schulz einen Sonntagsstrip mit drei Bildern. Im ersten sind ein Bunker und Stacheldrahtverhaue zu sehen, im zweiten der Bug eines Landungsboots und Helme vonf Soldaten. Im dritten und größten liegt Snoopy mit Helm am Strand zwischen deutschen Sperrverhauen. Dieses Bild zitiert wiederum eines der berühmtesten Fotos Frank Capas von der Invasion am Omaha Beach in der Normandie. Die Bildunterschrift lautet: „6. Juni 1944. Zur Erinnerung.“ Diese Sonntagsseite ist sehr dunkel gehalten, ohne jede Dynamik, sie kommt ohne jedes Pathos aus, wirkt fast melancholisch. Steven Spielberg hat in seinem Film „Saving Privat Ryan“ mit Splattermomenten, mit Lärm, Blut und herausgerissenen Gedärmen versucht, das Abschlachten bei der Landung zu schildern. Bei Schulz sieht man nur einen einsamen Snoopy, das Grauen ist auch so spürbar. Schulz war selbst drei Jahre Soldat im Zweiten Weltkrieg. „Ich lernte in dieser Zeit, was Einsamkeit ist“, schrieb er über seine Erfahrungen damals.

In seinem hymnischen Text auf die „Peanuts“ hat Umberto Eco postuliert: „Die Poesie entsteht daraus, dass wir in dem Verhalten der Kindergestalten die Nöte und Sorgen der Erwachsenen finden.“ Das ist richtig, beschreibt aber nur einen Teil. Schulz hat den Verlust seiner geliebten Mutter – sie starb bereits 1943 – als unverheilte Wunde beschrieben und sich selbst als übervorsichtigen Vater. In den „Peanuts“ herrscht eine krasse Angst vor dem Draußen und eine untergründige Furcht vor dem Verlust der Eltern: „Sicherheit ist, auf der Rückbank eines Autos zu schlafen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, deine Eltern sitzen vor dir und sie kümmern sich um alles. Aber plötzlich bist du groß und es wird nie wieder so sein!“ Dazu passt, dass ausgerechnet die Erwachsenen in dieser Cartoon-Welt fast immer abwesend bleiben. Das Element des Komischen, mit dem Schulz immer wieder Verlustängste umspielt, hat etwas Erlösendes, nie etwas Lächerliches – das macht die Poesie dieser Serie aus.

Charles M. Schulz: „Die Peanuts – Werkausgabe“. Aus dem Amerikanischen von Fred Kipka, Bd. 1, 1950–52; Bd. 2, 1953–54; Carlsen 2006, ca. 330 Seiten, je 29,90 Euro