Auf Entdeckungsreise mit Einheimischen

Wie funktioniert Integration? „Indem man in Austausch miteinander tritt, indem man sich Einblicke in das jeweilige Leben gibt, indem man miteinander redet“, sagt Waafa Khatab. Sie ist eine von vier Frauen, die Schulklassen von überall her auf eine Reise durch ihr ganz persönliches Kreuzberg mitnehmen

„Es wirkt sehr leicht, was wir tun, aber es ist harte Arbeit und Erfahrung“

von Waltraud Schwab

Mit Leuten, die Angst vor Kreuzberg haben, hat Nadja Sponholz Erfahrung. „Was wisst ihr vom Bezirk?“, fragt sie eine Gruppe Schüler und Schülerinnen aus Eberswalde. „In Kreuzberg ist es gefährlich“, wagt sich eine Schülerin, der ein Teddybärchen vom Rucksack baumelt, vor. „Weil da viele Ausländer und Türken wohnen“, ergänzt ein hochgewachsener 15-Jähriger mit kurzem Haar. Nadja kennt solche Antworten.

Vor fünf Jahren begann die heute 28-Jährige zusammen mit drei Freundinnen und unterstützt vom Museum Kreuzberg ein Experiment: „Wir zeigen Schulklassen von außerhalb den Bezirk, in dem wir groß geworden sind.“ Immerhin hat der sie geprägt, wie nur eine Heimat prägen kann. Sie gehen mit den Jugendlichen an all jene Orte, um die sich Gefährlichkeitsmythen und Fremdheitsängste ranken: Männercafés und Moscheen, Mauerreste und Restebasare, Oranienstraße und Heinrichplatz. Den Negativbildern vom überfremdeten, randalebereiten, runtergekommenen Stadtteil, an denen nicht nur die Boulevardzeitungen hängen, sollte entgegengesetzt werden, wie dort aufgewachsene Kreuzbergerinnen ihn selbst sehen. Vielleicht, so die Hoffnung, können Abwehr und Angst dann noch um Neugier und Anteilnahme ergänzt werden.

„Ich wurde hier gezeugt, bin hier groß geworden, zur Schule gegangen“, verkündet Sponholz vor der Eberswalder Klasse. Eine ganz normale Jugend. Nur dass sie von ihren türkischen Freundinnen noch Türkisch lernte. „Obwohl du ’ne Deutsche bist“, wendet eine Schülerin ein. „Türkisch lernen ist erlaubt“, kontert die heutige Studentin der Geschichte und Sozialkunde.

Im Kreuzberg Museum beginnt sie mit ihrer Führung. Dort läuft eine Ausstellung über 300 Jahre Zuwanderung in den Bezirk. Sponholz lässt die Jugendlichen auf Karten ein paar Länder suchen, aus denen Menschen im Laufe der Jahrhunderte nach Berlin kamen: Frankreich, Böhmen, Polen, Türkei. 4 von 150 Nationalitäten, die hier leben, sind das. Die geografischen Kenntnisse einiger Jugendlicher bergen Konfliktpotenzial. Aus Polen wird da schon mal Russland, aus dem Iran gar die Türkei.

Vor einer Istanbuler Kulisse erzählt Sponholz, mit welchen Methoden die Berliner Industrie in den 60er-Jahren Leute von dort als Arbeitskräfte angeworben haben. „Wer Löcher in den Zähnen hatte, wer eine Brille trug, zu dick oder zu dünn war, wurde aussortiert. Auch eine Urinprobe sollte abgegeben werden. Im Istanbuler Basar entwickelte sich daraufhin ein Urinprobenmarkt.“

Mit solchen Details, die das persönliche Empfinden tangieren, fängt die junge Stadtführerin ihre Zuhörer ein. Jetzt kann sie auf die persönliche Ebene wechseln und erzählen, dass ihr Freund selbst türkischer Herkunft ist. Und dass seine Großmutter mit Grauen an die entwürdigenden Prozeduren beim Gesundheitscheck, an die langen Zugfahrten, an die Wohnheime, die verfallenden Altbauten im Kreuzberg der 70er-Jahre, an das ganze Leben auf Abruf denkt.

Der türkische Freund interessiert. „Stimmt es, dass du zum Islam übertreten musst?“, fragt eine Schülerin. „Nein, der Islam akzeptiert andere Religionen“, erklärt sie. Nur wenn ein muslimisches Mädchen einen christlichen Jungen heiraten will, dann werde erwartet, dass er sich beschneiden, die Vorhaut entfernen, lasse. Ein paar junge Eberswalderinnen ziehen entsetzte Gesichter.

Nadja Sponholz und die drei Freundinnen, mit denen sie das Projekt „X-Berg-Tag“ macht – X steht für „Kreuz“ sowie für das Unbekannte und die Variable –, setzen der Unkenntnis bewusst ihre eigenen Erfahrungen entgegen. Sponholz kennt die Perspektive eines deutschen Mädchens, das sich bei ihren nichtdeutschen Freundinnen zu Hause fühlte – obwohl dort familiäre Gesetze und Gewohnheiten galten, die sie nicht kannte. Die anderen drei Stadtführerinnen haben selbst migrantischen Hintergrund.

Da ist die 27-jährige Gökçen Demiragli. Die Erziehungswissenschaftlerin arbeitet im Nachbarschaftshaus Schöneberg. Gökçen bringt vor allem die Erfahrungen ihrer Mutter und Großmutter ins Spiel. Diese kam in den 60er-Jahren als Analphabetin nach Berlin und arbeitete bei Siemens. Ihre Kinder ließ sie ein paar Jahre bei Verwandten in der Türkei, bevor sie sie nach Berlin holte. Demiraglis Mutter wiederum war immerhin fünf Jahre in der Schule. Kaum aber in Berlin, musste sie, 16-jährig, ebenfalls in der Fabrik arbeiten.

Wafaa Khatab, die jüngste der „vier Grazien“, wie die Stadtführerinnen sich selbst nennen, ist palästinensischer Herkunft. Sie kann die Geschichte ihrer Eltern, die in den 70er-Jahren vor dem Bürgerkrieg im Libanon flohen und in Berlin ein neues Leben anfangen mussten, erzählen. Khatab hat vier Schwestern. „Meine Eltern sind zwar sehr religiös, aber sie haben uns Mädchen nie gezwungen, ein Kopftuch zu tragen“, erzählt sie. Das heißt nicht, dass sie selbst nicht gläubig ist. Sie betet und sie fastet im Ramadan. Derzeit ist die 24-Jährige pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte, jedoch vor allem mit ihrem neugeborenen zweiten Kind beschäftigt.

Die Vierte im Bunde ist Ilknur Anlamaz, deren Vorfahren auch aus der Türkei sind. Allerdings sind es Kurden. Anlamaz schmückt ihre Berichte gern mit der Lebensfreude und Feierlust ihres Großvaters, der wie ihre Großmutter als Analphabet nach Berlin kam, aus. „Was sind Kurden?“, wird sie von hessischen Jugendlichen, mit denen sie durch den Bezirk zieht, gefragt. „Ich habe das noch nie gehört.“

Es sind keine klassischen Stadtführungen, die die Frauen machen – auch weil sie nicht nur mitteilen, sondern teilen wollen. „Vorurteile entstehen doch vor allem, weil man nicht miteinander redet und nichts voneinander weiß“, meint Wafaa Khatab. Die Liebe der jungen Frauen zu ihrem Bezirk könnte anderen helfen, ihn mit neuen Augen zu sehen. „Wenn jemand am Ende zu mir sagt: Können wir noch einmal in die türkische Bäckerei gehen?, dann habe ich schon was gewonnen“, meint Sponholz.

Die Anfänge waren für die Stadtbegleiterinnen gar nicht so leicht. Sie mussten lernen, mit Vorurteilen gegen sie umzugehen. „Du bist ja keine Türkin, weil du kein Kopftuch trägst“, bekommt Gökçen Demiragli öfter zu hören. „Wie viele Türkinnen kennst du denn?“, fragt sie zurück. Und Ilknur Anlamaz ergänzt, dass sie schon vieles erlebt habe auf den Touren. „Sogar, dass Leute an mir gerochen haben.“ Sie wirft ihre langen Haare in den Nacken. „Es wirkt sehr leicht, was wir tun. Aber es ist harte Arbeit und Erfahrung.“

„Was sind Kurden?“, wird Ilknur von hessischen Jugendlichen gefragt

Auf der X-Berg-Tour steuern die X-Bergerinnen zuerst einen Trockenfrüchteladen an und klären über die Verführungen aus Tausenundeiner Nacht auf: Rosinen in Traubensirup, türkischer Honig, Datteln, Mandeln oder geröstete Kichererbsen. Kichererbsen – das Wort löst Kichern aus. Die Verkäuferin hinterm Tresen lässt die Jugendlichen probieren. „Schmeckt nach Haferflocken“, meint eine der Eberswalder Teenager. „Ich ess das nicht. Auch keinen Döner. Ich hab was gegen Türken“, sagt ein anderer.

Auf den meisten Führungen geht es als Nächstes ins Männercafé. „Eigentlich dürfen auch Frauen rein“, erklärt Anlamaz, „aber welche Frau mag es schon, wenn sich 50 männliche Augenpaare auf sie richten.“ Die Männer spielen Backgammon, gucken Fußball. Die Jugendlichen werden zu grasgrünen Apfeltee eingeladen. Er schmeckt ihnen gut.

Der Oranienplatz, wo es bis vor kurzem große Fest- und Hochzeitssäle gab, ist eine weitere Station. Lass uns über Hochzeiten reden, meint Anlamaz. „Oh ja“, raunen Mädchen der zehnten Realschulklasse aus Hessen. „Einmal und nie wieder“, stöhnt hingegen Anlamaz. Bei Kurden sei es so, dass der Mann zahlt. Ob ich ein Kleid für 2.000 oder 10.000 Euro will – der Mann zahlt. Ob ich mit 20 oder mit 40 Freundinnen vor dem Fest zum Friseur gehe – der Mann zahlt.“ Sie habe sich für ein preiswertes Kleid entschieden, denn wenn ihr Mann nach der Hochzeit verschuldet ist, dann leide sie auch. Zu ihrem Fest kamen 1.200 Leute. Sie kannte noch nicht einmal die Hälfte. Höhepunkt der Zeremonie: Wenn das Brautpaar mitten im Saal mit Geld und Gold beschenkt wird. Ilknur Anlamaz’ Hochzeit soll 17.000 Euro gekostet haben, aber 19.000 Euro hätten sie bekommen. Dann studiert sie mit der Schulklasse zwei Hochzeitstänze ein, die auf dem Oranienplatz getanzt werden. Alle machen mit.

Ein weiterer Anlaufpunkt ist die Moschee. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen haben, setzen sich die Jugendlichen in eine Ecke auf den Teppich, während ihnen gegenüber ältere Männer den Koran studieren oder sich gegen Mekka verbeugen. „Warum sind Männer und Frauen getrennt?“ „Darf man ohne Kopftuch beten?“ „Darf man mit Regenschirm in die Moschee?“ „Warum dürfen Muslime mehr als eine Frau haben?“ Die Frauenfragen wehrt Anlamaz brüsk ab: „Wenn Frauen so blöde sind, sich das gefallen zu lassen, sind sie selbst schuld.“ Den Einwand einer Schülerin, dass der soziale Druck in den Familien so groß sei und Frauen wenig gelten, will sie heute nicht mehr stehenlassen. Dass allerdings in Deutschland lebende männliche Migranten sich Frauen aus der türkischen Provinz holen, weil diese sich mehr gefallen ließen als die, die in Berlin sozialisiert wurden, dieses Problem sieht sie auch.

Der 11. September habe das Interesse am Islam und die Klischeebilder über Kieze, in denen viel migrantisches Leben ist, verstärkt, erklärt Nadja Sponholz. Die seither größer gewordene Terrorangst aber verschärfe die negativen Bilder, die auch auf Kreuzberg projiziert werden. „Wir müssen damit umgehen, dass wir ständig gefragt werden: ‚Wie oft bist du schon angegriffen worden?‘, ‚Welche Waffen hast du dabei?‘, ‚Können die Leute hier überhaupt Deutsch?‘ “ Dies spiegele das eingeschränkte Bild, das die meisten Leute vom Bezirk haben. Vor kurzem habe sogar eine Reinickendorfer Schule, die sich für Touren angemeldet hatte, nach einem Elternabend den Besuch abgesagt. Nach Meinung der Elternvertreter sei es zu gefährlich, nach Kreuzberg zu gehen. Zudem verletze es die religiösen Gefühle einer christlichen Mutter, wenn ihre Tochter in die Moschee ginge.

Zum Abschluss der Tour geht Anlamaz mit den hessischen Jugendlichen in ein türkisches Restaurant, wo man sich die Speisen auf dem Herd aussucht, essen. „Super, die Führung“, meint einer der Realschüler, „man kapiert etwas.“ Und die Lehrerin sagt: „So funktioniert Integration wohl. Man ist neugierig aufeinander und lässt andere an seinem Leben teilhaben.“