Zwei Begegnungen

WAHRHEITEN Was für Menschen waren Franz Ferdinand und sein Attentäter Gavrilo Princip?

■ Was verbindet Gavrilo Princip, der in Sarajevo die Schüsse auf Franz Ferdinand abgegeben hat, und Vladimir Pistalo, der 100 Jahre später darüber schreibt?

■ Beide warben entgegen der mehrheitlichen Stimmung für eine serbisch-kroatische Verständigung: Gavrilo Princip als Gymnasiast in Sarajewo vor dem Ersten Weltkrieg, Vladimir Pistalo 80 Jahre danach, am Vorabend der jugoslawischen Sezessionskriege.

■ Darüber hinaus gibt es einen unsichtbaren Verbindungsmann, der den beiden geistesverwandt zu sein scheint. Das ist der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andric (1892–1975). Er gehörte derselben revolutionären Organisation an wie Princip: „Mlada Bosna“ (Junges Bosnien). Österreich-Ungarns Kolonialpolitik in Bosnien stand einer herbeigesehnten Gründung eines südslawischen Staates unter Führung Serbiens im Weg.

■ Für den Roman „Tesla, Portrait unter Masken“ erhielt Pistalo 2008 den angesehensten Literaturpreis Serbiens, den NIN-Preis. Seither gilt er als erster seiner Generation, der in der Lage ist, einem trockenen historischen Stoff die Weltliteratur abzutrotzen – ähnlich wie einst Andric.

■ Wie die beiden Jungbosnier Princip und Andric wurde Pistalo in Bosnien geboren. Dem schwierigen europäischen Thema nähert er sich jedoch aus einer heilsamen räumlichen Distanz: Seit 1993 lebt Pistalo nicht mehr in Belgrad, sondern in den Vereinigten Staaten und unterrichtet allgemeine und amerikanische Geschichte am Becker College (Massachusetts).

■ Dem 54-Jährigen ist dabei wohl bewusst, dass sich im exjugoslawischen Raum, aber auch mancherorts in Europa, Erinnerungskulturen beim Stichwort Sarajewo eher konträr zuspitzen als komplementär versöhnen. Das Addieren der hundertjährigen „Wahrheiten“ aus Belgrad, Wien, Berlin, Moskau, Paris oder Budapest hätte etwas kubistisch Verzerrtes an sich. Man müsste ständig den Blickwinkel verändern, um diverse Details nebeneinander auf eine Oberfläche in Einklang zu bringen. Das Resultat wäre faszinierend und kaum vergleichbar mit der historischen Realität.

DRAGOSLAV DEDOVIC

Dedovic ist Leiter der Serbisch-Redaktion bei der Deutschen Welle, die Vladimir Pistalos Text bereits im serbischen Original veröffentlicht hat. Von Pistalo erschien auf Deutsch „Millennium in Belgrad“, 268 Seiten, Dittrich-Verlag Berlin, 16,80 Euro

VON VLADIMIR PISTALO

Gerechtere Arten von Voreingenommenheit

Wahrheit? „Was ist Wahrheit?“, fragt Pontius Pilatus. Während meiner ersten Lebenshälfte konnte ich diese Frage nicht verstehen.

Ich verstand nicht, dass die Wahrheit kaum jemanden interessiert, wenn sie unabhängig ist vom Mächteverhältnis, in das man sie einzufügen sucht.

Ist Wahrheit also möglich?

Wenn Objektivität nicht möglich ist, gibt es dann gerechtere Arten der Voreingenommenheit?

Die beiden

Irgendwie hat sich die Meinung eingebürgert, man dürfe den getöteten Thronfolger Franz Ferdinand nicht mit seinem Attentäter Gavrilo Princip vergleichen. Die ganze Gesellschaft war darauf ausgerichtet, dass man sie gar nicht miteinander vergleichen konnte. Aber warum? Vergleichen wir die beiden doch einfach mal.

Franz Ferdinand

Er hatte aufsehenerregende Augen, Katzenaugen fast. Die Augen eines brillanten Jägers. Er erlegte eine große Anzahl von Tigern, Löwen, Schnabeltieren. Man sagt, im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark habe er mit Steinen nach Eichhörnchen geworfen, weil man ihm nicht erlaubt hatte, auf sie zu schießen. Eine Woche bevor er nach Sarajevo fahren sollte, nahm er eine Pistole zur Hand und schoss eine Katze tot. Die Wände seines Schlosses in Konopiste waren ein Wald von Geweihen. Im Laufe seines Lebens erlegte er siebentausend Hirsche und ungefähr eine Viertelmillion Vögel. Ein vornehmer englischer Biograf wollte in dieser Passion nichts Pathologisches erkennen, und beharrte darauf, dass sich die Leidenschaft des Franz Ferdinand mit den Angewohnheiten jedes normalen europäischen Adeligen decke. Ich frage mich, was uns das über die Leidenschaften eines durchschnittlichen Adeligen jener Zeit sagen soll.

Franz Ferdinand verstand es gut, zu hassen. Er fand, die Amerikaner hätten weder Herz noch Charme. Er beschwerte sich, die Monarchie sei völlig in den Händen der Juden, Freimaurer und Sozialdemokraten. Er hasste die Italiener. Die Serben waren für ihn Diebe und Mörder. So etwas wie ein ehrlicher Ungar, glaubte er, existiere nicht.

„Schauen Sie sich nur deren viehische Tänze an“, schrieb er an Kaiser Wilhelm. „Die werde ich zuallererst verbieten.“

Mit der Eigenschaft, die Ausländer bei Österreichern am ehesten erwarten, dem Charme, geizte er. In einer Zeit, in der die Herrschaft der Autokraten zu Ende ging, kam er als geborener Autokrat zur Welt. Er betrachtete alle Menschen als Gesindel, solange sie ihn nicht vom Gegenteil überzeugten. Immer wieder gestattete er sich in aller Öffentlichkeit Wutanfälle.

„Täuschen Sie sich nicht. Es wird für Sie nicht leicht werden mit mir, wenn ich erst einmal Kaiser bin“, sagte er seinem Neffen Charles’.

Er erwies Goethe und Schiller viel Ehrerbietung, widmete ihnen aber wenig Zeit. Sein Lieblingsinstrument war der Leierkasten.

Und Princip?

Er war der Mensch, den Hitler als „Fanatiker“ bezeichnete, und dessen Gelassenheit und mangelndes Selbstmitleid in der Haft selbst die Wächter überraschte. Während seiner Gefangenschaft im Gefängnis Theresienstadt belastete ihn weder sein Dahinsiechen an Knochentuberkulose noch der Verlust seines rechten Arms oder die Unausweichlichkeit seines Todes – ihn belastete nur, dass er nicht lesen durfte.

Princip schrieb Gedichte. Einer seiner von Walt Whitman beeinflussten Verse lautete:

„Ich wollte, ich hätte andere Leben gelebt. Ich wollte, mir wäre ein Kind geboren worden.“

Am 28. Juni des Jahres 1914 versetzte ihm Gott einen Peitschenhieb wie mit diamantenen Skorpionen und Princip drückte ab … Man sagt, er habe mit Franz Ferdinands Gattin Sophie Chotek eine 46-jährige schwangere Frau getötet. Und tatsächlich rief Franz ihr noch im Wagen zu:

„Sopherl, Sopherl, stirb nicht! Bleib am Leben für unsere Kinder.“

Als Princip dies während der Gerichtsverhandlung hörte, schloss er schmerzerfüllt die Augen. Der Richter fragte ihn, ob er darüber betroffen sei. Er antwortete:

„Denken Sie, dass ich ein Tier bin, dass ich keine Gefühle habe?“

Ja, ich glaube an genau diese Möglichkeit, dass die Richter in ihm ein Symbol der Unterwelt sahen, das sich von seinem angestammten Platz auf dem Totempfahl der Gesellschaft losgerissen hatte. Schließlich hatte er bei der Verhandlung ausgesagt:

„Ich bin der Sohn eines Leibeigenen, die Menschen bei uns leben wie die Tiere.“

Die Zeit

Während seines Aufenthalts in Europa verkündete Theodore Roosevelt:

„Wenn ich den nächsten König sehe, bekommt er meine Zähne zu spüren.“

Auch Mark Twain ließ kein gutes Haar an Monarchien. Twain sah in Monarchen nichts anderes als Usurpatoren und deren Nachfolger und in Königen nichts Göttlicheres als in Herumtreibern.

Auch in Europa hatte man beim Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert die Könige so langsam satt. In jener Zeit wurden drei Könige umgebracht, der serbische, der italienische und der portugiesische. In Österreich-Ungarn kamen Kronprinz Rudolf und Kaiser Franz Josefs Gemahlin Elisabeth ums Leben.

Die Bluterlöserkirche in Sankt Petersburg erinnert an das tödlich verlaufene Attentat auf den russischen Zaren Alexander II., und die Votivkirche in Wien erbaute man zum Dank für die Rettung Franz Josefs vor einem von drei Attentaten. Franz Ferdinand selbst war vor Sarajevo einigen Mordanschlägen entkommen und auch Königin Victoria überlebte sieben Attentate. In dieser Disziplin ist Louis-Philippe von Frankreich mit achtzehn Attentatsversuchen der absolute Champion.

Angriffe auf adelige Staatsrepräsentanten waren auch in den südslawischen Gebieten Österreich-Ungarns nichts Neues. Den bekannten Schüssen Gavrilo Princips gingen Bogdan Zerajics Schüsse auf General Varesanin, den Statthalter Österreich-Ungarns in Bosnien und Herzegovina, voraus. Zerajics Versuch wiederum gingen drei kroatische Attentatsversuche auf den Grafen Slavko Cuvaj, den Gouverneur von Kroatien voraus. Auf Cuvaj, der, ganz wie Franz Ferdinand, mit seiner Frau im Wagen saß, schoss zuerst der bosnische Kroate Luka Jukic (für den übrigens später eine Unterstützungsversammlung abgehalten wurde, an der auch Gavrilo Princip teilnahm). Am 31. Oktober 1912 schoss dann Ivan Planiscek auf Cuvaj, verfehlte diesen jedoch und beging anschließend Selbstmord. Später ersetzte der Kroate Ivan Dojcic den einen Gouverneur durch den anderen, und anstatt Cuvaj zu erschießen, schoss er den Baron Skerlec an – und zwar, weil der Schuss seiner Überzeugung nach nicht dem Menschen, sondern dem Symbol gelte.

„Wenn ich ihn getötet hätte, so hätte er mir als Mensch leidgetan“, sagte Dojcic, „aber nicht als Gouverneur“. Diese Worte könnten auch von Princip stammen.

Die Ideen

Was für die Sensibilität eines Kafka augenscheinlich war, nämlich das seelenlose hierarchische Beamtentum, das ihm die Idee zum „Schloss“ gab, und die Unmöglichkeit der Gerechtigkeit, aus welcher der „Prozess“ hervorging, die bürokratische Entmenschlichung, aus der sich die „Verwandlung“ entwickelte und die Rationalisierung der irrationalen Grausamkeit aus der „Strafkolonie“ – das musste in dem Maße weder für den späteren jugoslawischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andric noch für die jugoslawisch-nationalistischen Anhänger der Bewegung „Junges Bosnien“ offensichtlich sein.

Die Theoretiker der kolonialen Etikette sind davon überzeugt, die einzig angemessene Reaktion einer lokalen Bevölkerung auf Okkupation müsse sein, abwechselnd Tränen der Dankbarkeit und der Begeisterung zu vergießen … Die einen suggerieren, diese heilsverehrende Begeisterung der Ansässigen müsse konstant bleiben, die anderen, dass sie sich steigern müsse. Waren möglicherweise die hier kolonialisierten Völker nicht gut genug, um überhaupt kolonialisiert zu werden?

Die Vorstellungen des Franz Ferdinand waren, ganz wie die Vorstellungen der Verschwörer, einigermaßen unklar. Diese dachten, dass nach einer so bedeutenden Tat, wie das Attentat eine darstellte, sich auf unerklärliche Art und Weise alles schon irgendwie regeln würde. Sie glaubten, es reiche, von „höheren Zielen“ zu sprechen. Es sei genug, auch zum größten Opfer bereit zu sein, dann werde sich eine gute Gesellschaftsordnung (ausgehend von der nationalen bis hin zur universellen) schon irgendwie entwickeln. Er, Franz Ferdinand, dachte, er könne die nationalen Bewegungen anhalten und den Ungarn die Autonomie wieder nehmen, und so würden sich die Dinge irgendwie wieder auf die Autokratie hin zurückbewegen.

Erste Begegnung – im Kastensystem

So hatte also der Gott, an den er nicht glaubte, an jenem Tag Gavrilo Princip einen Peitschenhieb wie mit diamantenen Skorpionen versetzt, und der hatte abgedrückt …

Worauf hatte er geschossen?

Ob sie die Brosche auch an dem Tag trug, an dem sie selbst zum Opferlamm der Geschichte wurde?

Ich glaube, am meisten auf die Tatsache, dass er nicht mitentscheiden durfte, wer sein Land regiert. Mit diesen Schüssen wollte er kundtun, dass aufgezwungenes Beglücken Vergewaltigung genannt wird. Und außerdem schoss er auf Hegels lustvollen Umgang mit Begriffen wie historische und nicht historische Völker, und auf die Ideen des Sozialdarwinismus, die auch an Franz Ferdinand nicht vorbeigegangen waren.

Er schoss auf das Kastensystem.

Die Kluft zwischen einem Erzherzog und gewöhnlichen Adeligen war gleichzusetzen mit der Kluft zwischen dem Adel und dem Großbürgertum. Und die war, wie wir hinzufügen wollen, gleichzusetzen mit der Kluft zwischen dem Großbürgertum und dem gewöhnlichen Beamtenstand mit seinen zahlreichen Einkommensstufen, der mittleren Klasse, den Kleinbürgern und der Arbeiterklasse. Am untersten Ende der Pyramide standen die wohlhabenderen Bauern, noch unter ihnen die grundbesitzlosen Leibeigenen. Aus dieser Kaste stammte Gavrilo Princip. Er hatte keinen eigenen Platz in einer Gesellschaft inne, die „vom Grafen an aufwärts“ gerechnet wurde.

Das einzige Wesen, das Franz Ferdinand als ihm gleichbedeutend ansah, gehörte einer anderen Kaste an. In ihrer nicht standesgemäßen Ehe zeigte sich Sophie Chotek mit ihrem Gatten nur selten bei Hofe. Selbst im Privattheater mussten sie getrennt voneinander sitzen.

Der Erzherzog hatte sich gegen das Hofprotokoll aufgelehnt und behauptet, in „dynastisch angemessenen“ Ehen würden „Trottel und Epileptiker“ geboren. So war Franz Ferdinand offensichtlich sowohl die Stütze der Habsburger Dynastie als auch ein Opfer der Ungleichbehandlung in eben diesem System.

Hundert Jahre alte Veilchen

Elf Generationen königlicher Ahnen schwebten über dem Automobil mit dem Kennzeichen A III 118. Zwanzig polnische, acht französische, sieben italienische, siebzig deutsch-österreichische und sechs tote Könige „von unterschiedlicher Herkunft“ versammelten sich um Franz Ferdinand.

„Es ist nichts“, flüsterte er und blickte mit seinen seltsamen Augen in den Himmel über Sarajevo. Die Geisterkönige zogen lange El-Greco-Gesichter. Sie waren in Brokat und graue Wolken gehüllt. Der Erzherzog und die Herzogin waren durch ihre Korsette so eingeschnürt, dass sie sich nicht krümmen konnten und steif und marionettenhaft auf den Sitzen des Automobils lagen. Inmitten der aufgewirbelten Geister klagte der Heilige Georg. An der Spitze der Pyramide ließ die Madonna im blauen Gewand ihren Tränen freien Lauf. Ein Grabesgeruch wie nach Brigantinen und hundert Jahre alten Veilchen hing in der Luft. Über der Madonna hielt eine Taube den Reichsapfel und sandte goldene Strahlen aus. Alles war verzaubert, heilig-verwunschen und ungewöhnlich still.

Vier Jahre später hauchte Princip in Theresienstadt sein Leben aus, infolge von Ausgezehrtheit und Knochentuberkulose. Über seinem eingefallenen Schädel brüllten neun zornige Löwen, klagten neun Witwen, weinten neun Waisen, schrien neun gute Rösser, krächzten neun Falken. Es erschollen die metallischen Stimmen der Klageweiber. Das Mädchen vom Amselfelde zerbrach seinen Krug und die toten Freunde boten ihm Kirschen aus China an. Ich weiß, dass er zeit seines kurzen Lebens ein kurzsichtiger und ängstlicher Junge war, aber dass er sich und diesen anderen geopfert hatte, veränderte ihn. Er lehnte es ab, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Ich glaube, dass dieser Lümmel nicht einmal Charon das Goldstück für die Überfahrt gab, sondern mit seinem ihm verbliebenen Arm neben dem Fährboot herschwamm.

Und was wäre, wenn?

Ob es wohl besser gewesen wäre, wenn das alles niemals passiert wäre?

Das wäre es.

Und wenn Bosnien weiter zu Österreich-Ungarn gehört hätte?

Diese Frage ist im höchsten Grade hypothetisch.

Und trotzdem behaupten die Dichter, Kunst werde aus dem geschaffen, was hätte geschehen können.

Die Anzahl der Kroaten in Bosnien wäre nicht von fast dreiundzwanzig Prozent auf acht gesunken. Die Serben hätten das Grauen des Zweiten Weltkriegs nicht erfahren, und die Muslime nicht das des letzten Krieges. Die Menschen wären zum Studium nach Wien gegangen, hätten sich immer präziser ausgedrückt und immer besseren Wein getrunken. Die Gesetze wären immer gerechter geworden, die Herrschenden besser, die Musik süßer, die Menschen weiser und glücklicher und die Herzen der Einzelnen gerechter und sanfter.

Hätte schon sein können, vielleicht – aber ich bezweifle es stark.

Nach dem „Krieg, der alle Kriege beenden“ sollte, war nicht einmal mehr Ungarn im Reich verblieben.

Schon im Frühling jenes Jahres, in welchem der Tod in Venedig beginnt, waren allgemeine Erregung und Bedrohung in Europa angewachsen.

In Zentraleuropa nistete sich die Idee vom Lebensraum ein. Im Zauberberg lernt der Leutnant Joachim Ziemßen Russisch und lehnt es ab, mit der vollbusigen Marusja zu sprechen, weil er weiß, dass er früher oder später an die russische Front geschickt wird.

Europa war längst gespalten und gehörte zwei Militärbündnissen an. In der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg verdoppelten alle Großmächte ihre Kriegsbudgets. Ich sage: verdoppelten!

Und danach …

Nach dem Krieg wurde Theresienstadt zum Konzentrationslager und Konopiste zum Zentrum der Gestapo. Und dies schließt auf symbolische Art und Weise den Kreis.

Nur …

Auch das wäre viel zu einfach gewesen.

Als Adolf Hitler hörte, was in Sarajevo geschehen war, befürchtete er zunächst, dass das Attentat vielleicht von deutschen Nationalisten organisiert worden sei. Als er begriff, dass dem nicht so war, fiel er auf die Knie und dankte dem Himmel, dass er zur rechten Zeit geboren sei. Er hasste Serben und Habsburger. Beide Söhne Franz Ferdinands, Ernst und Max, landeten im Konzentrationslager, in dem sie einige von Princips Verwandten hätten treffen können.

Die Brosche mit dem Lamm

Für Franz Ferdinand stand oft eine dunkle Seite für den ganzen Menschen.

Wenn er Wutanfälle bekam, strich sie über eine Brosche, die ein Lamm darstellte – und er beruhigte sich

Wir dürfen seinen Fehler nicht wiederholen.

So manches Mal wurde auf sehr spezielle Weise über das Attentat geschrieben, ganz, als habe Princip in Sarajevo eine Privatperson erschossen. Franz Ferdinand sah in der Armee die Prätorianergarde, den Schutz der Krone. Als er getroffen wurde, fiel ihm der Kalpak mit den grünen Federn vom Kopf, der Kalpak des Generals der Kavallerie. Er war Generalinspekteur des Heeres in Friedenszeiten und Oberbefehlshaber im Krieg. Kaum jemand personifizierte in stärkerem Maße die Streitkräfte der Monarchie.

Aber er war auch Privatmann. Dieser Mann legte am Eingang seines Schlosses Konopiste Sarkasmus und Misanthropie ab, die sonst seine ständigen Begleiter waren. Er wunderte sich darüber, wie sehr man seine Kinder lieben könne, und benahm sich Sophie Chotek gegenüber wie ein wahrer Prinz.

„Das Allergescheiteste, was ich in meinem Leben getan habe, war, meine Sophie zu heiraten“, sagte er. „Sie ist alles für mich, meine Frau, mein Arzt, mein Berater.“

Wenn er Wutanfälle bekam, strich sie über eine Brosche, die ein Lamm darstellte und die sie immer trug – und er beruhigte sich. Ich frage mich, ob sie die Brosche auch an dem Tag in Sarajevo trug, an dem sie selbst zum Opferlamm der Geschichte wurde.

Zweite Begegnung: Am Rande der Hölle

Einer von Manns Buddenbrook’schen Helden spricht von der unparteiischen Gerechtigkeit des Todes. Gavrilo Princip, Kain und Paria in einem, vertauschte bereitwillig sein Leben mit dem des aristokratischen Abel. Im Tod sind Franz Ferdinand und seine Frau endlich gleichberechtigt (Nicht ganz! Ihr Sarg war kleiner und um gut 45 Zentimeter niedriger!). Im Tod wurden auch Franz Ferdinand und Gavrilo Princip gleichberechtigt.

Danach traten beide aus der normalen Zeit in die mythische Zeit ein. Beide wurden zu Helden im altgriechischen Sinne, nach dem der Held nicht als guter Mensch angesehen wird, sondern als Ausnahmeerscheinung, als derjenige, der sich symbolisch außerhalb der menschlichen Ordnung befindet. Der heilige Junge und der heilige König bekamen jeder sein Museum, der eine in Artstetten, der andere in Sarajevo.

Ich habe mich immer gefragt, ob es im Universum einen Ort gibt, an dem sich die beiden treffen könnten.

Vielleicht fühlte sich Franz Ferdinand im Tode so einsam, dass er begann, seinen Mörder zu lieben, wie Prudencio Aguilar in Márquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“ José Arcadio Buendías zu lieben beginnt? Was könnten der tuberkulosekranke Prinz und der tuberkulosekranke Verschwörer einander sagen, wenn sie sich in Schulz’ Sanatorium zur Sanduhr oder auf Manns Zauberberg träfen? Vielleicht könnte Princip dem Erzherzog dann endlich seine nicht weitergeleitete Eingabe zur Lage der bosnischen Leibeigenen überreichen.

Ob der Nachkomme von elf Königsgenerationen bereit wäre, sein Humanitätskonzept auch auf „diese Menschen“ auszuweiten? Selbst wenn er ein gewisses Wohlwollen ihnen gegenüber empfände, beschränkte sich dies sicher nur auf den bekannten „So mögen sie Kuchen essen“-Sinn. Und umgekehrt hielt Princip Franz Ferdinand für einen Tyrannen und bezog ihn nicht in sein Konzept von Menschlichkeit mit ein.

Das genau ist der Kern des Problems – eine Situation, in der die Konzepte der Menschlichkeit nicht wechselseitig angewandt werden.

An jedem St.-Veits-Tag wurde Gavrilo Princip in Theresienstadt ohne Brot und Wasser in eine lichtlose Zelle gesperrt, um dort über seine Tat nachzudenken. Als er starb, wurde irgendwo am Rande der Hölle ein Raum geöffnet. In diesem Raum kommen Franz Ferdinand und Gavrilo Princip an jedem St.-Veits-Tag zusammen. Und dann sprechen sie miteinander. Dann erörtern sie gemeinsam Themen wie das Entsetzen vor dem Mord und die Bedeutung der Gleichberechtigung.

Übersetzung aus dem Serbischen von Susanne Böhm