Eine Welt vor ihrer Zerstörung

ERINNERUNGSARBEIT Mit jedem Album schaut man in ein anderes Leben – die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg

April 1933 verloren die drei Juristen ihre Zulassungen, ihre Kanzlei wurde „arisiert“

Knapper hätte es nicht sein können: Zwei Tage vor der Pogromnacht 1938 schafft es Familie Stern die nötigen Unterlagen für die Ausreise aus Deutschland zusammenzubekommen. Wie knapp es wirklich war, das zeigt die „Unbedenklichkeitsurkunde“, ein Nachweis über Schuldenfreiheit, ausgestellt in Berlin, den 7. November 1938 – eines der wichtigsten Dokumente zur Beantragung der Ausreisedokumente. Hätte die Familie auch nur einen Moment länger gewartet, wäre die Flucht womöglich nicht mehr möglich gewesen.

Sterns Vater erkannte schnell, dass seine Familie nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa verlassen musste. Doch viele Einwanderungsbehörden ließen kaum Flüchtlinge ins Land. Dank der Anstellung der Mutter beim Hilfsverband der Deutschen Juden kann Familie Stern nach China flüchten und sich dort durchschlagen und überleben.

Helmut Sterns abenteuerlicher Lebenslauf vom Exilanten zum ersten Geiger der Berliner Philharmoniker ist eine von sechs neuen Biografien, mit denen die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Schöneberger Rathaus weiter gewachsen ist. Nachlesen kann man hier mittlerweile 136 Lebensgeschichten von ehemaligen Bewohnern des Bayerischen Viertels.

In einem großen Lesesaal hängen an beiden Längswänden kleine handschriftliche Karteikarten mit Namen, Straßen und Hausnummern. Sie tragen die Namen der 6.069 jüdischen Männer und Frauen aus Schöneberg und Friedenau, die von den Nazis ermordet wurden. Auf Lesepulten liegen Alben beleuchtet von Lampen, davor ein Stuhl. Jedes Album trägt einen Namen und ist viel mit Liebe zum Detail durch Gespräche mit Zeitzeugen entstanden. Persönliche Bilder aus den Familienalben, wichtige Dokumente wie Ausreiseanträge und im Falle Hellmut Sterns, handgeschriebene Musiknoten der Mutter, sind von den Zeugen des Holocaust für ihr Album bereitgestellt worden.

Wachsende Erinnerung

Seit Jahren gibt es die Adresse in Berlin, die einen wichtigen Aspekt der Erinnerungsarbeit darstellt. Die Ausstellung hält die Namen der während der NS-Zeit ermordeten Juden fest, und jedes Jahr kommen neue Biografien zur Sammlung hinzu. Was man heute sehen kann, geht auf eine mehr als 20-jährige Arbeit mit Zeitzeugen und Überlebenden zurück, die mit dem Aufspüren und der Kontaktaufnahme zu den vertriebenen ehemaligen Schönebergern begann. Mit Hilfe der Senatskanzlei und des Bezirks konnten die Mitarbeiter des Kulturamts Schöneberg bald Kontakte zu Überlebenden herstellen; zeitgleich wurden nichtjüdische Schöneberger gefunden, die sich erinnern wollten und über die NS-Zeit sprechen konnten. Erste Ergebnisse der Recherchen veröffentlichte 1995 die Ausstellung „Formen des Erinnerns“, die vom Kulturamt Schöneberg organisiert wurde.

Als sich immer weiter Kontakte knüpfen ließen, entstand schließlich die Idee zu einer dauerhaften Ausstellung. Seit 2010 ist „Wir waren Nachbarn“ ständig im Schöneberger Rathaus zu sehen, mit wechselnden Schwerpunkten. In diesem Jahr werden die ehemaligen Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes sowie Anwälte, Notare und Richter in den Vordergrund gestellt.

Stellvertretend für diese Berufsgruppe stehen Kurt und Fritz Ball. Die Geschwister leiteten gemeinsam mit ihrem Vater eine Kanzlei am Victoria-Luise-Platz. Im April 1933 verloren die drei Juristen ihre Zulassungen und konnten von da an nicht mehr als Anwälte arbeiten, ihre Kanzlei wurde „arisiert“. In ihrer Biografie finden sich sowohl viele Bilder aus dem persönlichen Familienalbum, als auch ausführliche Berichte der Brüder. So schildert Fritz Ball seine Folterung im „wilden KZ“ in der General-Pape-Straße in einem eindringlichen Bericht. In Folge der Pogromnacht wurden die Geschwister in das KZ Sachsenhausen verschleppt.

Insgesamt präsentiert sich die Ausstellung als ein unschätzbares Archiv an Erinnerungen. Mit jeder Biografie schlägt man ein anderes Leben auf und taucht ein in die Welt Berlins in den 1930er und 1940er Jahren. „Wir waren Nachbarn“ zeigt die Vielfalt des Lebens, das die Nazis zerstört haben. Besonders für Bewohner des Bezirks Schöneberg ist es interessant, nachzuforschen, welche Geschichte die Straßen und Häuser ihres Kiez haben. Eine der eindringlichsten Erinnerungsorte Berlins ist hier entstanden.

CHRISTINA STEENKEN

■ „Wir waren Nachbarn“, Rathaus Schöneberg, Mo.–Do. 10–18 Uhr, Sa.+ So. 10–18 Uhr, Eintritt frei

■ Sa., 29. Januar, ab 19 Uhr Zeitzeugengespräch mit Hellmut Stern