Der Traum der Realisten

REALISMUSSTREIT Allenthalben wurde der andere Courbet, den die Ausstellung „Ein Traum von der Moderne“ in der Frankfurter Schirn zu zeigen suchte, gefeiert. Nicht ganz zu Recht. Ein Kommentar zum Ende der Schau

VON ISABELLE GRAW

Die Frankfurter Courbet-Ausstellung möchte einen anderen Courbet zeichnen, „jenseits des Realismus“. Ihr Kurator – der renommierte Kunstwissenschaftler Klaus Herding – erklärt diesen wohl politisch radikalsten Maler des 19. Jahrhunderts, der für seine Beteiligung an der Zerstörung der Vendome-Säule ins Gefängnis ging, zum „Träumer der Geschichte“.

Diese These wird mit einem sorgfältig choreografierten Ausstellungsparcours vorgetragen und entwickelt, was zunächst einmal extrem aufschlussreich ist. Denn tatsächlich scheint es ein guter Ansatz, den Akzent nicht, wie so oft, auf den gesellschaftskritischen Courbet zu legen, auf jenen Maler mithin, der soziales Elend in Bildern wie dem heute verschollenen „Die Steinklopfer“ (1849) nicht nur abbildete, sondern als eine Form der körperlichen Zurichtung eindringlich erfahrbar machte. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die These vom träumerischen Courbet trotz ihres Erkenntnisgewinns nicht am Ende doch auf eine Entschärfung seines Projekts hinausläuft, das damit auf eine Art Individualfantasie herabgestuft wird.

Wenn sich Courbet im Jahre 1870 mit der Pariser Commune solidarisierte und eine offizielle Stellung als Kunstkommissar bekleidete, stand doch wohl mehr auf dem Spiel als ein Erträumen anderer Verhältnisse. Gleichwohl hat Herding zu Recht eine bislang kaum bemerkte „traumwandlerische Sinnlichkeit“ in seinen Bildern ausgemacht, die er mit Verweis auf die zahlreichen Porträts von entweder schlafenden oder irgendwie in sich gekehrt anmutenden Figuren eindrucksvoll belegt. Für das Schlafmotiv im Speziellen muss jedoch ergänzend hinzugefügt werden, dass es stets Frauen sind, die bei Courbet vor sich hin dämmern. So etwa in „Kopf eines schlafenden Mädchens“ (1849), „Schlafende Spinnerin“ (1853) oder in „Mädchen an der Seine, im Sommer“ (1856).

Courbet ging es in diesen Bildern jedoch weniger um die Darstellung einer wie auch immer gearteten Traumverlorenheit als um die Auseinandersetzung mit den Folgen von geschlechtlicher Arbeitsteilung. Die von ihm porträtierten schlafenden Frauen waren als Angehörige der Bourgeoisie zum damaligen Zeitpunkt aus der Arbeitssphäre schlicht ausgeschlossen. Sie konnten sich den von ihm malerisch eingefangenen Müßiggang erlauben, waren aber auch zur Untätigkeit verdammt. Die zahlreichen Porträts von ebenfalls sinnierenden, ins Leere starrenden oder in die Lektüre vertieften befreundeten Kulturproduzenten (vom Kunstkritiker Champfleury bis zum berühmten Bild des lesenden Baudelaire) sind ebenso weniger als Zeichen für Courbets Interesse an Untätigkeit oder Introspektion zu lesen denn als Repräsentationen von kognitiver Arbeit. Courbet scheint den immateriellen Charakter dieser intellektuellen Arbeit – die ja größtenteils aus Nachdenken besteht – gleichsam avant la lettre erfasst zu haben. Dass diese immaterielle Arbeit jedoch wertschöpfend ist, wird durch die spezifische Materialität seiner Malerei noch unterstrichen, die aufgrund der von Courbet verwendeten Spachteltechnik aus der Sicht seiner Zeitgenossen grobschlächtig war und auch heute noch stellenweise wie hingeschmiert wirkt.

Das Problem dieser Ausstellung ist folglich nicht, dass sie eine Akzentverschiebung – weg vom realistischen hin zum „sur-realistischen“ (Herding) Courbet –, vornimmt. Das Problem ist vielmehr, dass sie diese Perspektive verabsolutiert, so als wäre Courbet ein eskapistischer Träumer gewesen, was den expliziten Gesellschaftsbezug seiner Bilder in den Hintergrund rückt.

Nebenbei bemerkt hatte der Realismus, den sich Courbet in seinem Manifest von 1855 auf die Fahnen schrieb, wenig mit jenem Realismusbegriff gemein, der heute in der Kunstwelt, zuletzt etwa auf der letzten Berlin Biennale, eine eigentümliche Renaissance erlebt. Ist von Realismus im Kunstbetrieb die Rede, dann zumeist auf der Basis eines Lamentos über die angebliche Realitätsferne der Kunst, die es dadurch zu überwinden gälte, dass sie sich endlich in eine als „authentisch“ verstandene Wirklichkeit hineinbegibt. Einmal abgesehen davon, dass die bildende Kunst in Wahrheit längst im Zentrum der realen Verhältnisse angekommen ist, zumal der Künstler heute den Prototyp des vielbeschworenen unternehmerischen Selbst abgibt, ging es Courbet in seinem Realismusverständnis eher darum, Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit zu reflektieren, und zwar samt dem Platz, den er selbst als Künstler in ihnen einnahm.

In seinem berühmten Atelierbild (Das Atelier des Malers, 1855) hat sich Courbet als die wohl fragwürdigste Figur dieser „allegorie réelle“ (Courbet) gezeichnet, das Elend für sein Schaffen ausnutzend, von reichen Gönnern lebend. In der Schwebe bleibt bei Courbet jedoch immer, ob er die Verhältnisse, die auch seine Lebensverhältnisse sind, grotesk überzeichnet oder anteilnehmend dokumentiert. Speziell jene Posen, die er in der langen Reihe seiner Selbstporträts eingenommen hat, darf man deshalb nicht allzu wörtlich nehmen. Es stimmt zwar, dass er sich oft mit halb geschlossenen Augen malte. Dieser Schlafzimmerblick, der sich etwa in „Selbstbildnis mit Pfeife“ (1849) findet, steht jedoch weniger für das nach innen Gekehrte dieser Figur, sondern für eine bei Courbet grundsätzlich anzutreffende Zweideutigkeit.

Courbet nimmt in seinen Selbstporträts – besonders deutlich etwa in dem ausgesprochen theatralischen „Selbstbildnis als Verwundeter“(1844–1854) – typisch „romantische“ Posen ein, die er in demselben Maße für sich beansprucht, wie er sie überzeichnet, sich tendenziell über sie lustig machend. Dieses selbst-ironische Moment bei Courbet geht in Herdings Insistieren auf Innenwendung und Versenkung verloren.

Dies gilt auch für seine Interpretation von „Die Begegnung oder Bonjour, Monsieur Courbet“ (1854), ein Bild, das sich glücklicherweise in der Frankfurter Ausstellung befindet und das im Volksmund damals bezeichnenderweise „Reichtum grüßt Genie“ geheißen haben soll. Hier hat Courbet das Zusammentreffen zwischen seinem Mäzen Alfred Bruyas, dessen Diener und sich selbst wie auf einer grell beleuchteten Bühne als Versuchsanordnung aufgeführt. Anders als seine in Erdfarben und Brauntönen gehaltenen Bilder, ist dieses in helles Licht getaucht und wirkt auch in seiner Malweise geradezu grafisch.

Der Künstler stellt sich seinem Patron als freier Vagabund entgegen, vital und unabhängig zugleich, während der im Vergleich schwächlich wirkende Mäzen und sein Diener zuerst vor ihm den Hut ziehen. Die Stärke dieses Gemäldes ist in seinem marktreflexiven Potenzial zu sehen. Courbet thematisiert die neue Abhängigkeit des freien Künstlers vom Privatsammler, zumal es sich hier um ein Auftragsbild handelt, um auf der Basis dieser Abhängigkeit jedoch symbolisch Unabhängigkeit zu behaupten.

Mit einem „Tagtraum im hellwachen Zustand“ (Herding) hat dieses Bild schon insofern wenig zu tun, als ihm die real existierenden Abhängigkeitsverhältnisse zu deutlich eingeschrieben sind. Noch für Courbets berühmtes „Begräbnis in Ornans“ (1850), das die Pariser Bürger mit ihrem sorgsam verdrängten provinziellen Hintergrund konfrontierte, sucht Herding in seinem Katalogbeitrag nachzuweisen, das die hier auftretenden Akteure – die Bewohner der Kleinstadt Ornans – etwas Schlafwandlerisches an sich haben. Sie wirken zwar in der Tat irgendwie starr und abwesend. Doch mit der somnambulen Anmutung seiner Akteure allein hätte dieses Bild wohl kaum einen Eklat ausgelöst. Es kam T J. Clark zufolge einem Affront gleich, weil es die Grenze zwischen Bourgeois und Paysan verwischte, grotesk und ernst zugleich war und weil es die für Courbet typische Malweise aufwies, die als grobschlächtig empfunden wurde.

Clark hat zudem gezeigt, wie es Courbet auf seine Reputation als Bad Painter geradezu anlegte, wenn er in „Die Rückkehr der Bauern vom Markt“ (1850–55) ein buchstäblich hässliches Schwein mittig im Bild platzierte, das in matschigen Erdtönen herumschnüffelt. Vor diesem Hintergrund erweist sich die träumerische Atmosphäre seiner Bilder als ein Nebenaspekt, der in Frankfurt jedoch zum Hauptcharakteristikum erklärt wird. Eine solche Schwerpunktverlagerung geht zwar auf Kosten von vielschichtigeren Interpretationen, die dem, was bei Courbet auf dem Spiel steht, gerechter werden. Andererseits ist es als eine Leistung dieser Schau anzusehen, dass sie eine bisher übersehene Seite von Courbets Schaffen in den Vordergrund rückt, und dies in Form einer heute rar gesäten programmatischen Thesenausstellung.

■ Noch bis 30. Januar, Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main. Katalog (Hatje Cantz Verlag) 38,90 Euro