Sehnsucht nach Alternativen

In den Wahlerfolgen der Linken zeigt sich: Die neoliberalen Konzepte für Lateinamerika sind gründlich gescheitert

VON BERND PICKERT

2006 war in Lateinamerika das, was man hierzulande ein „Superwahljahr“ nennt – und es wurde das Jahr der Linken. In Chile, Ecuador und Nicaragua wurden mit Michelle Bachelet, Rafael Correa und Daniel Ortega linke PräsidentInnen gewählt. In Brasilien und Venezuela bestätigten die WählerInnen die Amtsinhaber Lula da Silva und Hugo Chávez, in Bolivien trat der erste indigene Präsident Evo Morales sein Amt an. In Peru scheiterte der linksnationalistische Kandidat Ollanta Humala nur knapp an seinem Konkurrenten Alan García, in Mexiko verfehlte der gemäßigt linke Andres Manuel López Obrador nur hauchdünn die Mehrheit. Lediglich im Bürgerkriegsland Kolumbien konnte der konservative Amtsinhaber Alvaro Uribe klar seine Position verteidigen, und bei den Wahlen in Costa Rica siegte mit Friedensnobelpreisträger Oscar Arias jemand, der mit einem klar auf Freihandel und Marktkräfte orientierten Programm gegen den derzeitigen politischen Mainstream Lateinamerikas schwimmt.

Denn bei allen Unterschiedlichkeiten der roten bis zartrosafarbenen Linksregierungen Lateinamerikas gilt doch eins: Ihre Wahlsiege sind inspiriert von der Suche nach Alternativen zu den wirtschaftspolitischen Konzepten, die Lateinamerika in den vergangenen 25 Jahren geprägt haben und die im Subkontinent mit dem Unwort „neoliberal“ treffender charakterisiert sind als sonst wo auf der Welt – und mit noch katastrophaleren Folgen. Die Grundrezepte der Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), seit den 80er-Jahren in Lateinamerika immer gleich zusammengemixt, waren: Öffnung der Märkte für ausländische Produkte, Abbau der Staatsausgaben, Privatisierung. Im Ergebnis hatten die Lateinamerikaner zwar nach dem Abgang der Militärdiktaturen der 70er- und frühen 80er-Jahre wieder demokratische Verfassungen und Wahlen, diejenigen jedoch, die da gewählt wurden, überhaupt keinen Spielraum – und nur zu oft auch gar kein Interesse –, die drängenden sozialen Probleme tatsächlich anzugehen. Statt zu prosperieren, brachen etliche Wirtschaften unter dem Druck von außen zusammen,

Die großen, aber schwachen, ineffizienten und korrupten Staatsapparate wurden verkleinert, blieben aber schwach und ineffizient – sodass für viele BürgerInnen Staat vor allem in Form von Militär und Polizei überhaupt noch sichtbar war, noch dazu nicht minder korrupt. Staatliche Leistungen wurden privatisiert, mit dem Ergebnis, dass sie den mehrheitlich armen Bevölkerungsschichten überhaupt nicht mehr zur Verfügung standen. Die Wahlsiege der Linken, etwa in Bolivien, sind auch ein Produkt der jahrelangen Mobilisierungen gegen solche Privatisierungen, etwa im Bereich der Trinkwasserversorgung. In den bolivianischen Städten Cochabamba und El Alto führten Volksorganisationen solche Kämpfe erfolgreich, berichteten davon auf den Weltsozialforen – und standen Pate für ein Referendum in Uruguay gegen die Wasserprivatisierung, das im Oktober 2004 gewonnen wurde, gleichzeitig mit dem Wahlsieg von Tabaré Vázquez, der seit dem März 2005 gestützt von einem breiten Linksbündnis unter Einschluss früherer Kämpfer der Tupamaro-Guerilla regiert.

Doch Regierungen, die unter dem Rubrum „links“ gewählt wurden, sind noch keine Garantie für linke Politik. Die Sozialistin Michelle Bachelet im reichen Chile wurde mit dem Versprechen gewählt, das extreme soziale Ungleichgewicht des Landes anzugehen – bis heute ist davon noch nicht viel zu sehen. Brasiliens linker Gewerkschaftsheld Lula da Silva hat in seiner ersten Amtszeit viele Hoffnungen enttäuscht – seine Wiederwahl erst im zweiten Wahlgang ist Ausdruck dieser Enttäuschung und des Mangels an Alternativen. Argentiniens Präsident Nestor Kirchner, einst gar nicht als „Linker“ gewählt, sondern vor allem als einzige Alternative zum wieder auferstandenen Ex-Präsidenten Carlos Menem, hat sich in Menschenrechtsangelegenheiten und beim Umgang mit der Auslandsverschuldung mehr Freunde in der Linken gemacht als Lula. Kirchner sieht seiner Wiederwahl im kommenden Jahr optimistisch entgegen.

Venezuela und Bolivien, womöglich auch Ecuador, nehmen Sonderstellungen ein: Hier sind die Wahlergebnisse Ausdruck jahre-, mitunter jahrzehntelanger Mobilisierungs- und Aufbauarbeit sozialer Organisationen. Weder Evo Morales noch Hugo Chávez sind vom Himmel gefallen – beide haben lange an der Basis Überzeugungsarbeit geleistet. Und in beiden Ländern steht und fällt das Projekt der strukturellen sozialen Umgestaltung mit ihrer Fähigkeit, die hohe Partizipation ihrer Basis an den politischen Entscheidungsprozessen aufrechtzuerhalten. Denn Chávez’ erdölfinanzierte Sozialgeschenke an die Armen befreien das Land weder von der Abhängigkeit vom Rohstoffexport, noch gibt diese Umverteilung allein den marginalisierten Schichten aus den städtischen Armenvierteln jene politische Rolle, die ihnen die „bolivarische Revolution“ zuspricht. Der Weg zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den Chávez ausgerufen hat, kann, wenn überhaupt, nur von unten nach oben funktionieren. Das ist die Herausforderung, die der wiedergewählte Chávez die nächsten Jahren zu bewältigen hat. Einfach weiter so wie bisher ist trotz Erdölboom zu wenig.

Und noch etwas eint die verschiedenen Linksregierungen Lateinamerikas: Sie alle haben ein zumindest gespaltenes, wenn nicht ablehnendes Verhältnis zu den USA. Die Supermacht im Norden, seit dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft immer wieder auch militärisch intervenierender De-facto-Hegemon, ist die einigende Projektionsfläche für nationalistische wie antiimperialistische Rhetorik – selbst dann, wenn sie nicht so schrill daherkommt wie Chávez’ Rede vom „Teufel“ Bush, der am Rednerpult der UN-Vollversammlung seinen Schwefelgeruch hinterlassen habe. Aber selbst Chávez ist weit davon entfernt, mit den USA zu brechen: Noch immer geht der Löwenanteil der Erdöllieferungen Venezuelas in die USA – und Chávez weiß, dass er daran so schnell auch gar nichts ändern kann, wenngleich er immer wieder gerne mit Kontakten zu China kokettiert.

Die Linksregierungen in Lateinamerika bieten eine einmalige Chance, der politischen Demokratisierung der 80er-Jahre nach dem Ende der brutalen Militärdiktaturen nun auch eine soziale Komponente folgen zu lassen. Gelingt das allerdings nicht, dann ist auch die Demokratie erneut in Gefahr. Setzt sich die extreme Ungleichheit der Verteilung des nationalen Reichtums auch unter den Linksregierungen fort, werden viele ihren Glauben daran verlieren, dass die repräsentative Demokratie überhaupt Probleme lösen kann. Eine neue Ära von autoritären, korrupten Populisten könnte die Folge sein.

In den europäischen Gesellschaften hat der Linksruck in Lateinamerika bislang keine Solidaritätswellen ausgelöst wie zuletzt der Sieg der sandinistischen Revolution in Nicaragua 1979. Das mag zum guten Teil daran liegen, dass die USA, gegen die sich die Linke in Westeuropa stets gern auf der Straße zeigte, in anderen Regionen der Welt zu beschäftigt ist, um sich erneut in ihrem selbst erklärten „Hinterhof“ zu verkämpfen. Oder daran, dass immer pragmatischere Linkspolitiker in Lateinamerika, die per Wahlsieg an die Regierung gelangen, nicht für Revolutionsromantik taugen? Nach der Revolution die Mühen der Ebene, so hieß es früher. Die heutige Linke in Lateinamerika fängt gleich in der Ebene an. Und das ist gut so.