Peppige Panzerschokolade

Die Geschichte des Dopingmittels Pervitin: Es hilft gegen Prüfungsangst, macht draufgängerisch und schnell. In den 50er-Jahren eroberte die Droge den bundesdeutschen Leistungssport. Auch im Umfeld der „Helden von Bern“ tauchte sie auf

VON ERIK EGGERS

Der Tipp kam von Heinrich Kwiatkowski. Als ZDF-Rechercheure im Jahr 2003 ausschwärmten, um vor dem 50. Jahrestag des „Wunders von Bern“ den mythenreichen Tag auszuleuchten, interviewten sie auch den ehemaligen Torhüter von Borussia Dortmund, der in der Schweiz beim 3:8 im Vorrundenspiel gegen Ungarn zum Einsatz gekommen war. Irgendwann kam das Thema auf die „Spritzen-Affäre“ von Spiez, wegen der viele Nationalspieler (unter ihnen Fritz und Ottmar Walter sowie Helmut Rahn) im Herbst 1954 an einer rätselhaften Gelbsucht erkrankten. Ferenc Puskas, der Kapitän der ungarischen Verlierer von Bern, bezichtigte daraufhin die deutschen Fußballer öffentlich des Dopings. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) dementierte vehement. Nie wurde geklärt, was in den Spritzen war, die der Mannschaftsarzt Dr. Franz Loogen den Spielern in Spiez verabreicht hatte.

Knapp ein halbes Jahrhundert später legte „Kwiat“ größten Wert darauf, in der Schweiz nichts eingenommen zu haben. Dann, nach einer längeren Pause, sagte er: „Ich war gegen jedes Aufputschmittel. Wann war das – 1961? Ja, es muss 1961 gewesen sein. Da kam der Merkelmann mit so einem Scheiß. Das war so Pervitin oder wie sich das schimpfte.“ Wer „der Merkelmann“ war, lag auf der Hand – es handelte sich um Kwiatkowskis Klubtrainer Max Merkel, dessen erste deutsche Station als Trainer Borussia Dortmund hieß. Über die Hintergründe des Pervitin-Einsatzes im Leistungsfußball aber schwieg sich die sportwissenschaftliche Literatur bis dahin aus. Die Frage war: War womöglich Methamphetamin enthalten in Dr. Loogens Gaben?

Die Geschichte des Pervitins beginnt in den 30er-Jahren im beschaulichen Marburg. Dort entwickelten die Temmler-Werke dieses Präparat und brachten es 1938 auf den Markt – mit durchschlagendem Erfolg. In dem Buch „Nazis on Speed“ wird ausführlich beschrieben, wie schnell das zunächst frei verkäufliche „Weckamin“ Pervitin den Status einer Wunderdroge erlangte, die auch im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kam. Obwohl „Reichsgesundheitsführer“ Conti das Mittel 1941 wegen der Suchtgefahr unter das Opiumgesetz stellte, kam es an der Front zum massenhaften Konsum: Die deutsche Kriegswirtschaft setzte es gezielt ein, um den Truppen Todesangst zu nehmen und die Aggressivität zu steigern. Zudem verdrängten die im Volksmund wahlweise „Hermann-Göring-Pillen“, „Stuka-Tabletten“ oder „Panzerschokolade“ genannten Präparate bei den Soldaten Hunger- und Durstgefühle. Selbst der spätere Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll verlangte in seinen Feldpostbriefen nach diesen Pillen („Schicke mir, wenn möglich, bald ein paar Pervitin“).

Auch der NS-Leistungssport experimentierte bald mit Pervitin. Die Wissenschaftler Heyrodt und Weißenstein ließen 1940 „einen trainierten Probanden sechs Wochen lang täglich bis zur Erschöpfung auf einem motorgetriebenen Laufband rennen“, wie Dopingexperte Dirk Clasing 1970 berichtete. Dabei kam es zu „einer erheblichen Leistungssteigerung“ – ein neuer „Raketentreibstoff“ war gefunden.

In der neutralen Schweiz war die „Pervitinisierung“ des Sports nach 1938 höchst umstritten. Während der Basler Pharmakologe Staub sich auf „neue Weltbestleistungen Marke Benzedrin oder Pervitin“ freute, warnten kritische Beobachter wie der ETH-Professor Fischer vor der „Pervitin-Seuche“ und bemerkten, die Amphetamine seien über die Sportlerkreise hinaus zum regelrechten Modeartikel einer Zeit geworden, „der in ihrem ungestümen Drang nach Tempo und übermenschlicher Leistung der Sinn für das richtige (physiologische) Maß bereits etwas abhanden gekommen“ sei.

Nach dem Krieg verstummte die Dopingdebatte in Deutschland. Erst ein veritabler Skandal bei den deutschen Rudermeisterschaften 1952 brachte das Thema wieder auf die Agenda. Als der bekannte deutsche Olympiaarzt Dr. Martin Brustmann dort den beiden besten Achtermannschaften Dopingmittel verabreichte, protestierte das spätere bundesdeutsche IOC-Mitglied Georg von Opel, der damals als Mentor und Mannschaftsmitglied der unterlegenen RuGem Flörsheim-Rüsselsheim beteiligt war. Er warf Brustmann vor, „dem Flörsheimer Achter in Duisburg Schlafmittel in Tablettenform gegeben“ zu haben, dem siegreichen Achter des Kölner RV 1877 hingegen leistungsfördernde „rote Pillen“ (Pervitin). Im Laufe der folgenden Untersuchungen widersprach Brustmann dieser Darstellung; er habe den Ruderern aus Flörsheim/Rüsselsheim vielmehr ein „selbst hergestelltes Präparat“ verabreicht: „Ich habe Testoviron genommen und das mit einem Überzug versehen.“ Brustmann wurde daraufhin suspendiert, und der alarmierte Deutsche Sportärztebund einigte sich auf eine Antidopingerklärung, die der Deutsche Sportbund Anfang 1953 übernahm – die erste deutsche Antidopingkonvention der Bundesrepublik. Es gab schon damals Sportärzte, die vor dem Konsum von Dopingmitteln warnten.

Andere Kollegen wendeten Präparate wie Pervitin bedenkenlos an, wie der Wiener Sportarzt Dr. Prokop im Sommer 1952 wusste: „Für die moralische und sportliche Seite des Dopings hört man von Sportärzten oft die Meinung, dass die Verwendung von Dopingmitteln, soweit sie nicht gesundheitsschädlich sind, fast als eine ‚nationale Notwendigkeit‘ bei großen internationalen Wettkämpfen anzusehen ist, weil es die anderen auch machen.“ Wenn aber zu Beginn der 50er-Jahre auch in Deutschland auf verbotene Mittel zurückgegriffen wurde, dann lag das an der drohenden Verschiebung auf der Weltkarte des Sports. So löste der Eintritt der Sowjetunion in das Internationale Olympische Komitee und die erste Teilnahme an den Spielen 1952 beim Establishment Befürchtungen aus, der Kommunismus werde den Weltsport usurpieren.

Die drohende Gefahr aus dem Ostblock war wohl mitverantwortlich dafür, dass in den frühen 50er-Jahren einige führende bundesdeutsche Sportmediziner im Verborgenen Dopingforschung betrieben. Als Zentrum dieser Forschung schälte sich die Universität Freiburg heraus, dort lehrte mit Prof. Herbert Reindell der Nestor der bundesdeutschen Sportmedizin. Reindell arbeitete seit den späten 30er-Jahren eng zusammen mit dem berühmten Leichtathletiktrainer Woldemar Gerschler, dem Leiter des Instituts für Leibesübungen an der Universität Freiburg. So hatte Reindell bei dem legendären Läufer Rudolf Harbig, einem Schützling Gerschlers, schon 1939 Pulsschlagmessungen vorgenommen. Harbig hatte kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zwei umjubelte Fabelweltrekorde über 400 Meter (46,0 Sek.) und 800 Meter (1:46,6 Min.) aufgestellt – nach unglaublichen Leistungsexplosionen.

Reindell publizierte in den frühen 50er-Jahren eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten. Über die vielleicht bemerkenswerteste medizinische Dissertation, die an dem Institut Reindells zwischen 1952 und 1954 angefertigt wurde, drang freilich nichts an die Öffentlichkeit: die Arbeit über „Die Wirkung von Dopingmitteln auf den Kreislauf und die körperliche Leistung“, die Oskar Wegener 1954 an der Hohen Medizinischen Fakultät der Freiburger Universität vorlegte. Der Leichtathlet Wegener (Jahrgang 1928) war von Holstein Kiel nach Freiburg in die Trainingsgruppe Gerschlers gekommen und zählte bis zu einer schweren Mandelentzündung zum erweiterten Olympiakader für die Spiele 1952. Über welches Thema Wegener im Auftrag Reindells forschte, steht in der Einleitung: „Wir haben die Auswirkungen von Coffein, Pervitin, Strychnin und Veriazol auf den Kreislauf und die körperliche Leistungsfähigkeit untersucht, weil sie am häufigsten benutzt werden.“

Die Ergebnisse, die der Freiburger Doktorand Wegener mit seiner Versuchsreihe an Ruderern, Leichtathleten und an sich selbst zutage förderte, mussten die Fantasien jedes Leistungssportlers beflügeln: „Die stärkste und anhaltendste Wirkung“ unter den vier untersuchten Dopingmitteln, fand Wegener heraus, „hat das Pervitin. Es vertreibt jedes Müdigkeitsgefühl und durch seine euphorische Komponente das Startfieber, da hier der Drang zum Sieg, der Überlegene zu sein, jedes Bedenken überwiegt.“ Bei austrainierten Athleten, fand Wegener heraus, stieg die Leistungsfähigkeit um fast 25 Prozent.

Aufgrund all dieser Belege ist die Vermutung, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft habe 1954 Aufputschmittel wie Pervitin oder Benzedrin genutzt, nicht allzu verwegen. Mannschaftsarzt Franz Loogen war Pervitin seit dem Zweiten Weltkrieg bestens bekannt. Denn damals besaß dieses Präparat unter den Medizinstudenten den Status einer Wunderdroge. Und er hatte sicherlich auch noch in guter Erinnerung, wie die Temmler-Werke im Zweiten Weltkrieg Pervitin verarbeiteten – „in Kombination mit Traubenzucker“.