Wahrheit zweiter Ordnung

INTERVIEWS Zu zweit eine dritte Person erschaffen: Zwei Neuerscheinungen versammeln Gespräche mit Künstlern und Schriftstellern, die über den Western oder ihren Vater reden

„Er aß selber nichts, er kochte nur etwas für mich und lungerte am Tisch herum und sah mir beim Essen zu. Wie Sie sich vorstellen können, machte mich das nervös. Es endete immer damit, dass ich etwas auf dem Teller ließ und er es aß“

RAYMOND CARVER ÜBER SEINEN LEKTOR

VON FRANK SCHÄFER

Jorge Luis Borges erzählt in einem langem Interview in der Paris Review von seiner Zusammenarbeit mit seinem Schriftstellerfreund Adolfo Bioy Casares. Was dabei herauskomme, unterscheide sich „ziemlich von Bioy Casares’ und meinem Zeug, selbst die Witze sind anders. Also haben wir beide gemeinsam eine Art dritte Person erschaffen. Wir haben auf irgendeine Art und Weise eine dritte Person zur Welt gebracht, die uns ziemlich wenig ähnelt.“

Etwas Vergleichbares hat der Psychoanalytiker Thomas Ogden („Gespräche im Zwischenreich des Träumens“) in seinen Therapiegesprächen bemerkt. Therapeut und Patient erschaffen zusammen ein drittes Subjekt mit einem Eigenleben, den „analytischen Dritten“. Der besitzt subjektive Anteile von beiden Gesprächspartnern, ohne mit einem von ihnen wirklich identisch zu sein.

Mark Twains Witze

Wenn man diesen Befund auf die journalistische Gattung Interview überträgt, offenbart das ihr Defizit und ihre Chance gleichermaßen. Auch und gerade in einem gelungenen Gespräch wird der Fragende dem Befragten nicht in den Kopf schauen können. Zusammen imaginieren sie sich ein Alter Ego, das zwar durchaus gewisse Rückschlüsse auf beide Partner, vor allem auf den Interviewten, zulässt, die jedoch immer interpretationsbedürftig bleiben. Als Instrument zur Wahrheitsfindung ist das Interview (und also auch sein humorloser Verwandter – das Verhör) folglich nur eingeschränkt tauglich. Das heißt noch nicht, dass man als Journalist seine erkenntnisstiftende Funktion völlig leugnen und die Antworten des Gegenübers erfinden müsste, wie Tom Kummer diesen Konflikt für sich und zweifellos bravourös gelöst hat.

Aber man kann ein Interview eben auch nach seinem Wahrheitsgehalt zweiter Ordnung, also nach dem ästhetischen Gelingen des Zusammenspiels, beurteilen. Borges’ Gespräch mit dem zurückhaltenden, aber geistesgegenwärtigen, grundgebildeten Ronald Christ, nachzulesen im großartigen zweiten Teil der gesammelten Paris-Review-Interviews in der Edition Weltkiosk, offenbart vor allem, was ein solcher Text literarisch zu leisten imstande ist. Hier passt alles zusammen. Die beiden begegnen sich mit gegenseitiger Wertschätzung, sprechen über Sachen, die sie interessieren, nicht nur über Borges’ Werk, sondern auch über den Western als Retter der Gattung Epos, Mark Twains Witze, über das Schreiben als „erlernten Trick“ im Gegensatz zum echten Dichten, über peinlichen Renommierstil und über Shakespeares Pomp. Und vor allem macht Christ einen hervorragenden Job als Souffleur, Regisseur und rhetorischer Brandbeschleuniger. Borges brilliert mit grandiosen Impromptus, aber auch nur, weil ihm sein Gegenüber immer wieder die richtigen Stichworte gibt.

Auch Raymond Carvers Unterhaltung mit Mona Simpson und Lewis Buzbee, aus der Paris-Review-Anthologie, ist nicht allein so aufschlussreich, weil der Autor hier seinen skrupulösen Produktionsprozess skizziert, von seinem Leben mit dem Suff berichtet oder den eigenen Schreibantrieb ableitet aus der Allgegenwart des Anekdotischen in seiner Kindheit – Carver senior muss ein großer Erzähler völlig moralfreier Alltagsgeschichten gewesen sein. Sie besticht vor allem auch durch die melancholische Würde, mit der er sich dem Profanen hingibt und es beinahe absichtslos zum Leuchten bringt. Etwa wenn er das Verhältnis zu seinem Lektor Gordon Lish beschreibt.

„Mindestens einmal die Woche lud er mich zum Essen ein. Er aß selber nichts, er kochte nur etwas für mich und lungerte am Tisch herum und sah mir beim Essen zu. Wie Sie sich vorstellen können, machte mich das nervös. Es endete immer damit, dass ich etwas auf dem Teller ließ und er es aß.“ Was für eine Metapher für den Lektor, der sich bekanntlich ziemlich an Carvers Texten zu schaffen machte, der nachträglich alles wegputzte, was der Autor nicht mehr schaffte.

Asymmetrisches Gespräch

Solche Stellen, in denen der Text den Anlass transzendiert, findet man auch in der fast ein bisschen zu umfangreichen, immerhin 48 Interviews umfassenden Sammlung von Jörn Jacob Rohwer. Rohwer hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht nur mit Literaten, sondern auch mit bildenden Künstlern, Filmemachern, Schauspielern und anderen Berühmtheiten unterhalten. „Biografische Gespräche“ nennt er die dabei entstandenen Texte, und das offenbart sogleich ihre Schwäche. Gelegentlich hätte man sich eine etwas eingehendere Auseinandersetzung mit Arbeit und Werk gewünscht.

Die Gespräche mit Vivienne Westwood und Susan Sontag etwa sind eher unergiebig. Vor allem im letzteren Fall liegt das auch an der asymmetrischen Interviewsituation. Hier beugt sich eine Starintellektuelle für ein halbes Stündchen hinunter zum Journalisten. Sontag ist viel zu ehrpusselig und zu wenig an ihrem Gegenüber interessiert, um ein wirkliches Gespräch auf Augenhöhe zu führen.

Wie man das macht, zeigt ihr ausgerechnet Rosamunde Pilcher. Die alte Dame ist so weltklug, schlagfertig und charmant, dass man sie vor ihrem Werk in Schutz nehmen möchte.

■  „Die Paris Review Interviews 02“. Aus dem Englischen und herausgegeben von Alexandra Steffes. Edition Weltkiosk, London/Berlin 2014, 349 Seiten, 19,90 Euro ■  Jörn Jacob Rohwer: „Die Seismografie des Fragens. Biografische Gespräche“. Salis, Zürich 2014, 872 Seiten, 34,95 Euro