Die Kassen auf!

AUS BERLIN ANNA LEHMANN

Nicht mal sechs Monate nachdem sich Schwarz-Rot auf Eckpunkte der Gesundheitsreform verständigt hat, treten die ersten Änderungen in Kraft. Die Kassen setzen nun um, was Angela Merkel im Juli nach einer langen Verhandlungsnacht verkündet hatte: „Wir werden zum 1. 1. 2007 noch einmal die Beiträge erhöhen müssen, etwa in der Größenordnung von 0,5 Prozent.“

Die Verwaltungsräte der gesetzlichen Krankenkassen legen diese Woche fest, wie viel ihre Mitglieder 2007 für ihre Krankenversicherung zahlen müssen. Kassen wie die Techniker Krankenkasse und einige AOKen haben schon Erhöhungen beschlossen (siehe Kasten), heute werden auch die DAK und die Barmer die neuen Beitragssätze bekannt geben. Auch gut die Hälfte der Betriebskrankenkassen werden laut Verbandssprecher Florian Lanz höhere Sätze verlangen.

Schuld daran hat laut Kassen die Regierung. „Ohne die Politik der großen Koalition hätte es keine Beitragssatzerhöhung gegeben“, kritisiert etwa der Sprecher der AOK Brandenburg, Jörg Trinogga. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) widerspricht: Sie sehe derzeit keinen Grund für eine starke Erhöhung der Beitragssätze; wie alle anderen sozialen Sicherungssysteme hätten auch die gesetzlichen Kassen dank der besseren Konjunktur höhere Einnahmen erzielt. Sie empfiehlt den Aufsichtsbehörden bei Bund und Ländern, die Kassen genau im Auge zu behalten.

Doch die verweisen auf Auflagen aus dem Ministerium: Alle Kassen sollen binnen zwei Jahren ihre Schulden abbauen, damit sie zum Start des Gesundheitsfonds gleiche Ausgangsbedingungen haben. „Die Entschuldung muss überhastet erfolgen“, sagt AOK-Vertreter Trinogga. Insgesamt haben die Kassen noch 1,8 Milliarden Euro Schulden, sie wurden aufgenommen, um die Beiträge stabil zu halten. Über 50 Prozent haben ihre Verbindlichkeiten bereits beglichen – die AOK Brandenburg nicht. 150 Millionen Euro muss sie bis 2009 abstottern, deshalb die Erhöhung um 1,3 Punkte. Damit liegt sie deutlich über der Prognose von Frau Merkel und selbst über der weniger optimistischen Vorhersage des Schätzerkreises der Kassen. Nach Angaben der Spitzenverbände, der sieben Kassenarten, bewegen sich die Steigerungen bei etwa 0,7 Prozent.

Andere Kassen, etwa die Betriebskrankenkasse Gildemeister Seidensticker, werden ihren Beitrag gar nicht anheben. Das bedeutet für eine Brandenburgerin mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 2.500 Euro, dass sie bei ihrer regionalen AOK ab Januar rund 26 Euro mehr zahlen muss als bei der kleinen BKK.

Trinogga ist trotzdem optimistisch, dass die AOK-Mitglieder ab 2. 1. 2007 nicht kollektiv abwandern werden. „Wir haben so viele Leistungen mehr als andere“, sagt er zur Begründung. So übernimmt die AOK etwa die neue Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs und unterhält ein dichtes Niederlassungsnetz – im Gegensatz zu Gildemeister Seidensticker, die von Bielefeld aus operieren. Auch Sprecherin Daniela Wächter, die dort ihren Schreibtisch hat, glaubt nicht, dass bald ein Schwung Brandenburger kommt. „Dazu sind wir zu unbekannt.“

Die Möglichkeit zum Kassenwechsel gibt es bereits seit zehn Jahren. Doch die große Wechselwelle ist abgeebbt. „Der Preis ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor“, sagt Frank Poddig. Im Auftrag des AOK-Bundesverbandes beobachtet er den Versichertenmarkt. Ein Kassenwechsel erfolge nie spontan, sondern wohlüberlegt, hat er bemerkt. Entscheidend sei Vertrauen in die Kasse. Doch umso mehr schmerzt es Kassen wie die AOK, wenn die Versicherten kündigen. Denn die Wechsler sind häufig gut ausgebildet, einkommensstark und jünger als 55 Jahre – die Kassen nennen das „günstige Risiken“. „Die Abwanderung der Gesundheitsbewussten trifft besonders die großen solidarischen Kassen“, klagt Poddig. Billigkassen wie kleine Betriebs- und Innungskrankenkassen machten regelrecht Treibjagd auf diese Klientel.