Spät wie Grass

60 Jahre Atomuhr – Segen oder Fluch? Ein Wahrheit-Report von der Zeitfront

Die Verspätung wurde zum Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft

Die Neuzeit war schon recht alt, als Frank W. Libby die Zeit neu erfunden hat. Es war aber auch höchste Zeit: Vor dem 6. Dezember 1946 herrschten Willkür, Weltkriege und Winterpausen bis Ende Mai. Seit jenem denkwürdigen Nikolaustag jedoch gilt die Zeitrechnung nach Cäsium-133. Das Sekundäre wurde zur Sekunde, der Augenblick zum „Verweile doch“, der Moment zum Mom. Libby stellte einer staunenden Weltöffentlichkeit die erste Atomuhr vor, und der findige Forscher wurde dank seiner Schöpfung unsterblich. Beinahe jedenfalls: Am 8. September 1980 löste der fleißige Physiker sich in seine Atome auf.

Vielleicht war das auch besser so: Denn das 60-jährige Jubiläum seiner Erfindung gibt kaum Anlass zum Feiern. Die Libby-Uhr sorgt nämlich nicht nur für unvergleichlich präzise Zeitmessungen. „Sie ist auch verantwortlich für eine gigantische Zunahme des Verspätungsphänomens“, sagt Professor Hans Schramm, Leiter einer Studie des Max-Planck-Instituts für Extremphysik (MPIE) über die Folgen der Atomzeitrechnung. Sein Kollege Donald Fullthrottle, Leihdozent vom Massachusetts Institute for Technology, rechnet vor, dass durch die Atomuhr allein der US-Wirtschaft jährlich ein Schaden von 20 Trillionen Dollar entsteht – „plus/minus 300 Cent“, wie der für seine Exaktheit bekannte Wissenschaftler ohne ein Lächeln hinzufügt.

Tatsächlich waren vor dem 6. Dezember 1946 Verspätungen unbekannt. Der Mensch stellte seinen Taschenchronometer bzw. das Stundenglas nach der Kirchturmuhr. Deren Zeitanzeige wiederum errechnete der Küster aus dem Stand der Sterne, dem Zug der Wildgänse oder Pi mal Daumen. Die Ungenauigkeit solcher Verfahren scherte niemanden. Als Napoleon zum Russlandfeldzug aufbrach, versprach er Gattin Josephine, sie „täglich gegen zwölf Uhr“ aus dem Kreml anzurufen. Die Kaiserin in Paris musste allerdings bis zur Erfindung des Telefons warten, ehe ihr Mann sein Versprechen wahrmachen konnte. Da waren beide zwar schon lange tot, aber die kluge Gemahlin hat Napoleon seine Unpünktlichkeit nie krumm genommen.

Das Jahr 1900, berichten Zeitzeugen, wurde in Australien drei Wochen später als in Europa eingeläutet. Auf dem Alterssitz Otto von Bismarcks in Friedrichsruh galt sogar bereits das Jahr 1903, denn der „eiserne Kanzler“ hatte kurz vor seinem Tod 1898 „einfach genug von diesem saublöden 19. Jahrhundert“ und ließ die Kalender kurzerhand um drei Jahre vorstellen.

Als Adolf Hitler am 1. September 1939 im Berliner Reichstag verkündete, „seit 5 Uhr 45“ werde „zurückgeschossen“, standen die Mordbrenner der Wehrmacht bereits seit drei Tagen auf polnischem Boden. Hitler wusste es eben nicht besser. So erstaunte es auch niemanden, dass der Gröfaz sich erst 1945, also zwölf Jahre zu spät, das Leben nahm.

Libbys Atomuhr hat diesen laxen Umgang mit der Zeit für immer beendet. Doch weil Menschen, anders als Atomuhren, nicht aus Cäsium-133 bestehen, „ist die Verspätung zum Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft geworden“, sagt Professor Schramm. Die Beweislast der MPIE-Studie erdrückt: So konnte von den knapp elf Millionen Zügen der Deutschen Bahn im Jahr 2003 nur der Eurocity „Roger Kusch“ seinen Fahrplan einhalten, und dies bloß deshalb, weil er 2002 außer Dienst gestellt worden war.

Jeder zweite deutsche Arbeitnehmer erscheint regelmäßig unpünktlich zum Dienst – alle anderen haben Gleitzeit. Die Summe sämtlicher Verspätungen bei der Zustellung von Weihnachtspaketen berechnen die Experten des MPIE mit 10 hoch 14 Stunden: Das entspricht ziemlich genau dem Alter unseres Universums.

Doch man muss kein Nuklearphysiker sein, um die fatalen Auswirkungen der Atomzeit auf unseren Alltag beobachten zu können. So haben wir alle schon erlebt, dass eine zweite Supermarktkasse erst dann geöffnet wird, wenn man nach ewigem Anstehen am Fließband der ersten Kasse angekommen ist. Rotampelphasen scheinen gar nicht aufzuhören, wenn man im Porsche sitzt. Frauen verspäten sich stets zum Rendezvous, und Männer kommen grundsätzlich immer zu früh.

Wie allgemein bekannt, hatte der Winter in diesem Jahr rund vier Wochen Verspätung. Auf eine witzige, gescheite oder wenigstens belangvolle Rede des Bundespräsidenten Horst Kohler wartet die Nation seit seiner Amtseinführung. Dass es für eine Änderung der amerikanischen Irakpolitik zehn nach zwölf ist, hat George W. Bush erst nach drei Jahren erfahren. Einsamer Rekordhalter des Jahres 2006 in Verspätungen ist allerdings Nobelpreisträger Günter Grass: Er kommt mit seinem SS-Geständnis geschlagene 61 Jahre zu spät.

Und selbstverständlich macht das katastrophale Verspätungsunwesen auch vor der taz nicht Halt: Dieser Artikel zum Beispiel hätte schon vor zwölf Tagen, am 6. Dezember 2006, erscheinen müssen. Danke, Mr. Libby!

KAY SOKOLOWSKY