Haseloff statt Hartz IV

AUS BAD SCHMIEDEBERG THOMAS GERLACH
UND BIRGITTA KOWSKY (FOTOS)

Helmut Kohl wollte sie halbieren. Gerhard Schröder hatte das auch vor. Nur Erich Honecker hat sie tatsächlich abgeschafft, vorübergehend. Gescheitert sind sie letztlich alle. Jetzt kommt Reiner Haseloff, und ihm wird es gelingen. Was? Na, die Abschaffung der Arbeitslosigkeit.

Reiner Haseloff, Brille, hohe Stirn, sitzt im Rathaus von Bad Schmiedeberg am schweren Ratsherrentisch. Der Mann ist eingerahmt vom untersetzten Bürgermeister und den eleganten Herren von der Arbeitsagentur. Haseloff müsste jetzt eigentlich aufspringen, zum Fenster rennen, die Flügel aufreißen und rufen: Wir schaffen die Arbeitslosigkeit ab! Doch Haseloff bleibt sitzen und sagt: „Wir wollen zeigen, dass es rein theoretisch möglich wäre, die Arbeitslosigkeit im kommunalen Bereich fast vollständig herunterzufahren.“ Sinn für Dramaturgie hat Reiner Haseloff nicht, Sinn für Dialektik schon.

Denn die Grundlage seines Plans ist der Abschied von einer langgehegten Illusion: der Vollbeschäftigung. Sie ist Traditionsgut ganzer Politikergenerationen, das immer neu verheißene Licht am Ende des Tunnels. Reiner Haseloff, 1954 in einem Dorf bei Wittenberg geboren, hat das Licht ausgeknipst. Wer Reiner Haseloff ist? Haseloff ist Physiker und seit acht Monaten Minister für Wirtschaft und Arbeit des Landes Sachsen-Anhalt.

Mit Arbeitslosigkeit kennt er sich aus. Nicht dass Haseloff sie selbst erlebt hätte, er hat sie aber verwaltet – zehn Jahre lang als Direktor des Arbeitsamtes Wittenberg. Haseloffs Idee: Nicht länger die Folgen von Arbeitslosigkeit mildern, sondern mit Arbeitslosengeld, Hartz IV, Wohnungszuschuss, Eingliederungshilfe Arbeitsplätze schaffen, „marktfern“ und „wettbewerbsneutral“. Es ist so etwas wie eine immerwährende ABM – unbefristet und sozialversicherungspflichtig, für Langzeitarbeitslose mit „Vermittlungshemmnissen“, etwa Ortsgebundenheit, unpassender Qualifikation und höherem Alter. Diese Leute bekommen nun Arbeit im sozialen Bereich, ihr Name: „Bürgerarbeit“.

Wie bei Physikern üblich, wird die Sache getestet. Das Labor heißt Bad Schmiedeberg, wo um Renaissance-Rathaus und Kirche 4.200 Menschen leben. Es gibt ein staatlich anerkanntes Moor- und Mineralheilbad mit Kurpark und Fontäne sowie, etwas abseits, Baustoff- und Kosmetikindustrie. Schmiedeberg ist also keineswegs ein hoffnungsloser Fall, wie der Arbeitsminister beteuert. Dennoch gebe es Langzeitarbeitslose, an denen der derzeit einsetzende Aufschwung vorbeiziehe.

Man will also etwas wagen, so wie 1878. Da stand Schmiedeberg tatsächlich vor dem Aus. Das Dragonerregiment war abgerückt, die Häuser standen leer, und die Ratsherren barmten, was denn nur werden solle. Der Bürgermeister hatte die rettende Idee. Ein Moorbad sollte her, zur Behandlung von Rheuma, Gicht und Impotenz. Anfangs müsse man nur ein paar Wannen aufstellen, das Moor liege ja vor der Haustür. Der Mann wurde belächelt. „Ein Versuch hiervon in kleinem Maßstabe würde Gewissheit geben. Die Kosten sind unbedeutend“, beschlossen die Ratsherren und schritten zur Tat. Heute ist das Moorbad größter Arbeitgeber im Ort.

Dieser frische Ton der Altvordern ist auch Reiner Haseloff eigen. Der Mann hat etwas von Simplicissimus. Wo das Knäuel ganz fest verschlungen ist, wo die einen Experten mal an diesem Ende, die anderen an jenem ziehen, da hilft nur noch Schlichtheit. Das Geld aus dem Töpfen zusammengekratzt, den arbeitslosen Menschen gegeben und eine Aufgabe dazu: Du, Gudrun, meldest dich mit Britta im Altenheim beim Herrn Neumann. Da könnt ihr den Alten was vorlesen, und wenn das Wetter schön ist, geht ihr spazieren, vielleicht backt ihr ihnen mal was, die haben auch Waffeleisen. Und du, Heinz, meldest dich bei Pastor Krause und installierst die Adventslichter auf dem Kirchturm, du kannst auch Kurgäste durch die Kirche führen.

So vertraut wird es wohl nicht zugegangen sein bei den Vermittlungsgesprächen mit den 331 Erwerbslosen aus Bad Schmiedeberg im Wittenberger Arbeitsamt. 108 fanden auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Job oder werden weitergebildet, 131 kamen für die Bürgerarbeit in Frage, 30 von ihnen wurden bis Anfang Dezember eingestellt, und die Arbeitslosenquote der Stadt stürzte in den Keller: Im September 15,6 Prozent, Mitte November 9,1 Prozent. Ende des Jahres soll sie bei 2,8 Prozent liegen – Vollbeschäftigung.

Natürlich ist das alles gesetzwidrig. Es ist verboten, das Geld zur Existenzsicherung und das Geld zur Arbeitsförderung in einen Topf zu werfen, um damit Sozialbeiträge und einen Lohn von etwa 800 Euro für gemeinnützige Arbeit zu zahlen. Und natürlich fürchten Handwerk und Gewerbe, dass ihnen Aufträge verlorengehen. Trotzdem, wenn es gut läuft, so Haseloff, werde man eine Bundesratsinitiative starten, um die entsprechende Gesetzesänderungen anzuschieben. Übers Jahr wird der Wirtschaftsminister in Berlin seinen Auftritt haben – oder man hat ihn bis dahin als Hochstapler verjagt.

Haseloff entschwindet. Zurück bleiben die Herren vom Arbeitsamt und der Bürgermeister. Den Anwesenden möchte man jetzt Bürgerarbeiter an ihren Wirkungsstätten präsentieren. Das Rathaus leert sich, über dem Eingangsportal steht in Stein: „Wo der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst die daran bauen.“ Der Bürgermeister könnte heute meißeln: „Haseloff statt Hartz IV“.

Gudrun Schnaar wirkte angespannt, als sie im Zimmer von Lothar Neumann, dem Leiter des Altenpflegeheimes, präsentiert wurde. Sie setzte sich auf die Stuhlkante und rasselte ihren Lebenslauf runter: 71 bis 73 Fachverkäuferin für Bekleidung, 74 bis 95 Verkäuferin im Kaufhaus am Markt, danach Reinigungskraft, danach Bandarbeiterin im Abfüllbetrieb für Kosmetik. Gekündigt zum 1. Mai 2004. Danach habe sie sich in der Kurklinik beworben, in der Kaufhalle. Alles umsonst.

Eine Woche drauf trifft man die 51-Jährige nicht mehr im Sonntagsstaat, sondern entspannt im weiten Pulli. Sie kennt schon alle Heimbewohner, und die kennen sie. „Ja, ich war im Kaufhaus am Markt!“, hört man Frau Schnaar sagen. Sie ist stolz, dass sich einige der Alten noch an die Zeit erinnern, als sie Verkäuferin war. Dann gießt sie Saft in Becher, führt sie zum Mund, räumt den Vergesslichen die Sachen nach oder redet behutsam auf Demente ein.

„Manche Leute werden ein bisschen laut, dann spricht man mit ihnen, dann geht es wieder“, sagt sie. Es ist wie Kinder versorgen, und da kennt sie sich aus. Ihre neue Arbeit lässt sich so beschreiben: das Altenheim mit seinen 64 Bewohnern, von denen mehr als die Hälfte in Rollstühlen sitzt, mit Leben erfüllen. Und das gelingt ihr und ihren beiden Kolleginnen viel besser als Roger Whittaker, dessen Timbre aus dem Lautsprecher dringt.

Keine Pflegekasse führt solche Tätigkeiten in ihrem Leistungskatalog, trotzdem ist sie unentbehrlich. Ein idealer Fall für Bürgerarbeit. Heimleiter Neumann ist sehr zufrieden. Seine Bürgerarbeiterinnen hat er schon in die heiminterne Fortbildung integriert.

„Wir sind hier, wir werden gebraucht, es macht Spaß. Das ist die Hauptsache!“, resümiert Britta Bennwitz, eine ehemalige Melkerin. Gerade noch hat sie mit Marina Geiworonski am Waffeleisen gestanden, jetzt werden die beiden von der geistig behinderten Jutta mit der Puppe umschwärmt. Warum das kleine Glück gerade zu ihnen gekommen ist, bleibt den beiden verborgen. Der Plan von Reiner Haseloff ist Frau Bennwitz als „Bürgerinitiative“ zu Ohren gekommen. Es stimmt ja auch – schließlich haben die Frauen monatelang ehrenamtlich die Alten besucht.

Es weht ein neuer Wind. Auch oben auf dem Kirchturm ist er zu spüren. „Man ist eben dabei mit dem Herzen. Das ist eine schöne Sache. Da macht das Leben wieder ein bisschen Spaß.“ Heinz Stegert ist ein eher stiller Mann. Doch 50 Meter über der Stadt, mit Blick auf Markt, Gassen und Gärten spricht es sich freier, zumal wenn einen die Wintersonne blendet. Da macht es auch nichts, dass Stegert eigentlich mit Höhenangst zu kämpfen hat. Im Gegenteil, der Kirchturm scheint schon sein zweites Zuhause zu sein. Heinz Stegert, 27 Jahre lang Elektromeister in verschiedenen Betrieben, wurde 2003 arbeitslos, mit 50. Dass ihm einfach so gekündigt wurde, hat er nicht verwunden. Wenn man ihn darauf anspricht, atmet er nur tief durch. Das und ein familiärer Schicksalsschlag haben ihn wortkarg werden lassen. Stegert formt mit der Hand einen Ziegelstein: So viele Bewerbungen hat er geschrieben. Zwecklos. Heute scheint die Kränkung verdaut zu sein, er trägt jetzt eine Sportjacke und redet von Spaß. Der Elektriker hat innerhalb weniger Tage hier auf dem Kirchturm den „höchsten Adventskranz Deutschlands“ installiert, wie Stadtpfarrer Krause freudig vermeldet. Vier elektrische Lichter auf stilisierten Kerzen, verbunden durch eine grüne Girlande – mit etwas Fantasie ein Lichterkranz.

Man kann das belächeln. Man kann das sogar albern finden. Die früheren Arbeitslosen jedenfalls haben wieder etwas, wo sie dazugehören. Heinz Stegert gehört nun zur Kirche. Er lässt seinen Blick schweifen. Unten am Markt das Kaufhaus, in dem Gudrun Schnaar einst gearbeitet hat, dann das Schwimmbad, wo Stegert selbst beschäftigt war, in der Ferne der Kurpark, vorn in den Gärten steht Grünkohl, eine Katze schleicht ums Eck. „Bad Schmiedeberg ist doch ’ne wunderschöne Stadt, wa? Wir haben doch alles, was wir brauchen!“ Für sein Gemüt flippt Heinz Stegert jetzt fast aus. Das Rathaus scheint von hier oben mit Händen zu greifen. Das Haus, in dem vor einer Woche der Minister das Ende der Tristesse verkündete, wird nun mit Girlanden geschmückt. Nicht weil Reiner Haseloff hier war. Es ist auch Advent.