Sieg der Essiggurke

Die EU-Mitgliedschaft steht unmittelbar bevor und immer mehr Bulgaren eignen sich einen nationalistischen Lifestyle an. Der Anti-Europäismus ist im Osten auch deshalb so groß, weil die Entfremdung zwischen nationalen Parlamenten und EU zunimmt

Für besonders radikale Bulgaren ist die EU eine Art Besatzungsmacht nach dem Ende des Kalten Krieges

von IVAYLO DITCHEV

In den letzten Jahren ist es in Bulgarien groß in Mode gekommen, sich selbst als Nationalist zu bezeichnen. Regelmäßig bekennen irgendwelche Intellektuelle, dass er oder sie immer schon Nationalisten waren. Bei Versammlungen hat man die Parteisymbole durch die der Nation ersetzt, und generell unterscheiden sich die von Politikern verwendeten nationalistischen Bilder oder Metaphern nur noch graduell. Und so erschütternd der plötzliche Erfolg der Neofaschisten „Ataka“ fraglos war – ihr Parteivorsitzender Volen Siderov hat es in diesem Jahr bei den Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde geschafft –, man sollte darüber nicht vergessen, dass auch der sozialistische Gewinner Georgi Parvanov sich mithilfe einer Nationalismusverpackung vermarktet hat. Und zwar indem er einen Mitarbeiter der früheren Staatssicherheit auf die Makedonienfrage ansetzte. Bekanntlich sind viele Bulgaren der Ansicht, es gebe historische Beweise dafür, dass Mazedonien zum Staatsgebiet gehört.

Wir haben hier gegenwärtig also den Nationalismus von rechts, der sich gegen Russland als vermeintlich noch immer irgendwie kommunistisches Land richtet, und wir haben den Nationalismus von links, der den Feind in den USA sieht. Zusätzlich findet sich eine fremdenfeindliche Variante, basierend auf dem Rassismus gegen die Roma, und die Kulturschaffenden spinnen weiter an ihren Geschichten über glorreiche Sagen der Thraker oder der protobulgarischen Khans. All diese Stränge laufen in einem allgemeinen Lifestyle-Nationalismus zusammen – kurz bevor Bulgarien nächstes Jahr EU-Mitglied werden soll.

Umso erstaunlicher ist es daher, dass sich patriotische Gefühle bei uns keiner besonderen Beliebtheit erfreuen. Fragt man die Bulgaren, ob sie ihr Leben für ihr Vaterland opfern würden, hält es laut einer nationalen Umfrage der Afis Agency von 2006 nur ein Fünftel für notwendig, diese Frage mit „Ja“ zu beantworten. Vierundvierzig Prozent hingegen entscheiden sich für ein eher unpatriotisches „Nein“. Zum Vergleich: 96 Prozent geben an, dass sie sich für ihre Kinder sehr wohl hingeben würden.

Der Lifestyle-Nationalismus nun ist nicht moralischer, sondern ästhetischer Natur. Er basiert vor allem auf der eklektischen Aneignung von Repräsentationen und Emblemen. Mit Erich Fromm gesprochen: Man lebt ihn nicht, man hat ihn. Seine Popularität speist sich infolgedessen vorrangig aus dem geschickten Einschmuggeln des Nationalen in eine globale Konsumkultur. Mittlerweile gehört es einfach dazu, E-Mails auf Kyrillisch zu schreiben, „Zar“-Essiggurken zu essen oder nationalistischen Popfolk zu hören. Entsprechend en vogue sind auch die Nationalflagge oder folkloristische Dekors.

Aber auch auf globaler Ebene arbeitet man an der Neuerfindung des Nationalen. Für Bulgarien bedeutet das: McDonald’s hat, um die Kluft zwischen dem Lokalen und Globalen verträglicher zu gestalten, vor fünf Jahren den „Haiduken Hamburger“ entwickelt. Die Reality-Spielshow „Survivor“ des hiesigen Murdoch-Senders teilt in ihrer bulgarischen Variante seit 2006 die Teilnehmer in zwei protobulgarische Stämme auf, denn das Publikum soll im Geiste tief verwurzelter nationaler Tugenden erzogen werden (was, wie wir alle wissen, immer hieß: zu überleben). Und die US-amerikanische transnationale NGO namens „Allianz der Freiwilligen für Wirtschaftswachstum“ ist gerade dabei, eine Plakette „Authentisches Bulgarien“ zu entwerfen, um sie an örtlichen Sehenswürdigkeiten anzubringen.

An dieser Stelle darf natürlich auch der Hinweis auf die gegenwärtige Sozialismusnostalgie nicht fehlen. Nicht, dass irgendeine Variante des Marxismus-Leninismus dabei wäre, zurückzukommen. Soz-Nostalgie wird vielmehr als Möglichkeit genutzt, der kulturellen Übermacht des Auslandes zu begegnen. Mit dem Kauf dieser Retroprodukte möchten wir unseren Hunger nach Identität stillen, ungeachtet ihrer lausigen (retrosozialistischen) Qualität.

Gleichfalls nicht zu vernachlässigen sind die kleineren privaten Kabelsender, die die Kritik an sozialen und politischen Verhältnissen mit Nationalstolz verkoppeln. Anstatt internationale Programme einzukaufen – dafür fehlt ihnen zumeist das Geld –, bieten sie eine Mixtur aus „authentischer“ Volksmusik, Wahrsagerei, Gedenktagssendungen und natürlich die von düsteren Schriftstellern oder Historikern betriebenen Hotlines zur Lebensberatung an. Aufgrund einiger bulgarischer Besonderheiten im TV-Gesetz existieren hunderte von diesen privaten Sendern, die einigermaßen niedrige Gebühren verlangen – was dem Phänomen weitere Relevanz verleiht. Der Aufstieg der eingangs erwähnten neofaschistischen Partei „Ataka“ begann auf einem dieser Sender: mit einem Moderator, den man noch aus den 90er-Jahren als Antikommunisten und Antisemiten kannte. Seine Sendung setzte stets mit Wagners „Walkürenritt“ und Szenen aus dem ersten Balkankrieg ein.

Ein weiterer Seismograf für die neuen nationalistischen Vorstellungswelten ist zweifellos auch das Internet. Sollten Sie je angenommen haben, diese Supereinrichtung würde Aufklärung bringen, muss ich Ihnen leider sagen: Sie haben sich getäuscht. Was stattdessen passiert, ist die Fragmentierung des öffentlichen Raums in semiprivate und semiöffentliche virtuelle Salons, Cafés, Clubs, Hamams, wie immer sie heißen, wo Gerüchte in Lichtgeschwindigkeit zirkulieren und nationalistische Ammenmärchen sich einen offenen Wettstreit mit einer jahrhundertealten wissenschaftlichen Tradition liefern.

Aber egal, auf was für eigenwillige Weise der neue Nationalismus ausformuliert wird, er bleibt ein Symptom für eine tief greifende Malaise. Anstatt als Bollwerk gegen die Anstürme der Globalisierung wahrgenommen zu werden, gilt die EU zunehmend als deren regionales Synonym. Die eigentliche Feuerprobe der Transformation – der Verlust der Arbeit, der Kollaps der sozialen Sicherungssysteme und die allgemeine Unsicherheit – wird von den meisten „denen“ angelastet, dem „Westen“, der „uns“ gezwungen hat, unser reizendes Land zu zerstören. Für die radikalsten unter uns ist die EU eine Art Besatzungsmacht nach dem Ende des Kalten Krieges.

Dabei haben viele Osteuropäer in den 90er-Jahren die EU als einen Verbündeten im Kampf gegen die eigenen lokalen Eliten betrachtet, die es zu disziplinieren und zu maßregeln galt. Inzwischen liegen die Dinge anders, und die EU erscheint eher als hilfreicher Verbündeter genau dieser Eliten, um deren illegitime Macht zu konsolidieren und ihr Transformationsschicksal zu standardisieren. Daraus erklärt sich der verzweifelte Aufschrei nach Gerechtigkeit, den niemand in Brüssel zu hören scheint und stattdessen auf „Realpolitik“ und dem Prinzip einer gewissen Permissivität beharrt.

In der Folge nimmt die Suche nach einer neuen öffentlichen Moral und der Ablehnung von korrupten Politikern eine antieuropäische Färbung an: katholisch in Polen, antikommunistisch in Ungarn, nationalistisch in Bulgarien. Vielleicht ist es auch generell im östlichen Europa schick geworden, europäischer Antieuropäer zu sein, ebenso wie es in den 70er-Jahren schick war, links zu sein. Wie traurig, wenn ich Recht hätte!

Wenn Sie mich fragen, dann ist das Hauptproblem von Europa die Dissoziation der beiden Säulen des modernen politischen Systems: also die Loslösung der Legislative von der parlamentarischen Demokratie. In den 90er-Jahren waren wir noch so naiv zu glauben, dass die beiden vernetzt seien, aber sie sind es nicht, sondern scheinen vielmehr gegenläufig zu arbeiten. Mit anderen Worten: Während die Legislative sukzessive an die europäischen Standards angeglichen wird, bleibt die innenpolitische Demokratisierung Aufgabe des Nationalstaates und entfernt sich in der Konsequenz immer weiter von der EU.

Mehr als 80 Prozent der Standards für die Rechtsprechung werden dem Nationalstaat von Institutionen der EU auferlegt, die für ihn nicht zu durchschauen sind. So sind die beiden südosteuropäischen Newcomer Bulgarien und Rumänien außer Stande, die neuen Gesetze auch nur zu übersetzen, so schnell werden sie produziert. Als eine Reaktion darauf wird die staatsinterne Demokratie immer nationalistischer und kombiniert die Ablehnung der politischen Korrektheit mit einer antieuropäischen Gesinnung sowie dem Wunsch nach einer Wiederbelebung von Moral mit Fremdenfeindlichkeit.

Die parlamentarische Demokratie nicht auf dem Niveau der EU zu etablieren, aber führt zu einer immer weiter abnehmenden Legitimität der Rechtsprechung auf nationaler Ebene. Und sollte sich die Kluft zwischen „denen“, die die Gesetze in der EU machen, und denen, die sie umzusetzen haben, in Zukunft noch weiter vergrößern, dann dürfte der ästhetische Nationalismus demnächst noch das geringste Problem sein.

Der Autor ist Professor für Kulturanthropologie in Sofia. Aus dem Englischen von Ines Kappert