Gute Schule geht überall

VON CHRISTIAN FÜLLER

Der Schulraum ist voll. Kein Wunder, schließlich ist das eine praxisnahe Schulstunde. Eigentlich Nachhilfeunterricht. „Was heißt Hartz IV?“ steht auf dem Lehrplan. Am Pult steht keiner aus dem Lehrerkollegium, sondern ein Experte der Bundesagentur für Arbeit. In dieser Stunde kann in der Grundschule alles über die große Arbeitsmarktreform gelernt werden – wobei nicht 6- bis 10-Jährige die Schulbank drückten, sondern ihre Eltern. Unterricht für Erwachsene – Alltag in der Grundschule an der Kleinen Kielstraße in Dortmund.

„Für uns ist das ganz normal“, sagte Schulleiterin Gisela Schultebraucks der taz, „schon bei der Gründung haben wir Lehrer uns gefragt: Wie muss eine gute Schule für diesen Bezirk aussehen?“

Die Antwort der Pädagogen ist ziemlich erfolgreich ausgefallen. Denn die Grundschule an der Kleinen Kielstraße, bisher allenfalls Eingeweihten ein Begriff, hat seit gestern landesweit einen Namen. Sie wurde zur besten Schule Deutschlands gekürt – und bekommt dafür stolze 50.000 Euro Preisgeld.

„Die Frau Schultebraucks hat gerade geweint“, ruft einer vom Spielplatz gegenüber. „Vor Freude!“ – „Kann ich verstehen“, sagt Murad, ein Schüler. Er schielt in den Block des Lokalzeitungsreporters neben ihm. „Murad schreibt man mit d“, sagt er vorwurfsvoll. „Ich muss ja auch alles richtig schreiben.“

Das ist das Wunder des neuen Schulwettbewerbs der Robert-Bosch-Stiftung, an dem 480 Schulen teilgenommen haben. Gewonnen hat nicht etwa eine Schule aus Bayern und auch kein elitäres Gymnasium, das von weißem, bildungsbegierigem Bürgertum bevölkert wird. Die Trophäe geht an eine Grundschule, die an einer Straße liegt, von von es nur ein paar Schritte bis zu Straßenstrich sind. 80 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund leben im Wohnsilo Hannibal. 412 Wohnungen übereinandergestapelt im grauen Beton, mitten in der Dortmunder Nordstadt. Nicht wenige leben von Sozialhilfe, viele sind arbeitslos. Gewonnen hat eine Einrichtung, so sagt es Bundespräsident Horst Köhler, „die gute Schule für alle macht“.

Fünf Jahre liegt die erste Pisa-Studie zurück. Sie konstatierte, dass Deutschlands Schulen einem Fünftel ihrer Schüler nicht Lesen und Schreiben beibringen können; dass in keinem anderen Industrieland der Unterschied zwischen guten und schlechten, zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund so groß ist wie hier. Seitdem tobt der Streit, welche Schulform die bessere sei. Der „Deutsche Schulpreis 2006 – Es geht auch anders“ hat eine Antwort gegeben. Neben der Grundschule gewinnen fünf Gesamtschulen, sie nehmen jeweils 10.000 Euro mit nach Hause. Die Offene Schule Waldau in Kassel, die Hamburger Max-Brauer-Schule, die Jenaplan-Schule in Jena und die Integrierte Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig (siehe unten).

Sofort hört man die Kritiker unken: Das haben die üblichen Verdächtigen ausgeheckt, die unverbesserlichen Fans der Gesamtschule. Das ist nicht richtig. In der elfköpfigen Jury saßen internationale Experten wie der erste niederländische Schulinspektor Johan van Bruggen oder der Züricher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers. Dabei war auch Manfred Prenzel, der Leiter der deutschen Pisa-Studie, und Erich Thies, Generalsekretär der Kultusministerkonferenz – beide weiß Gott keine Fans von Gesamtschulen. „Wir haben darauf geachtet“, sagt Prenzel, „dass Schulen gewählt werden, die wirklich etwas leisten – und nicht nur sozialpädagogisch gut sind.“

Die Dortmunder Grundschule ist ein 50.000 Euro wertvolles Beispiel dafür. Die Schule hat pädagogische Eigenschaften, die heute nichts Besonderes mehr sein müssten: Öffnung in den Kiez, individuelle Förderung, Elternarbeit, Lehrerteams, man kennt das. Aber Schultebraucks und ihre 25 Lehrerinnen setzen diese Elemente eben anders, energischer und pragmatischer um. Sie zeigen: Gute Schule geht überall.

Die Lehrerinnen an der Kleinen Kielstraße lernen ihre Abc-Schützen schon kennen, wenn die noch in der Kita sind. Neun Monate vor der Einschulung kommen Kinder und Eltern in die Schule. Dann gibt es keinen harten, ausgrenzenden Sprachtest, wie ihn inzwischen jeder Minister fordert. „Wir lernen unsere künftigen Schüler spielerisch durch eine Bildergeschichte kennen“, erzählt Rektorin Schultebraucks. Bereits jetzt gibt es einen individuellen Förderplan für jedes Kind – mit Konsequenzen. Reicht es etwa beim Zählen noch nicht, kommen die Kinder zu einem Förderkurs in die Schule.

Wenn die Lehrer das Wort „Ausländerkinder“ hören, rümpfen sie die Nase. „Es geht nicht um den Migrationshintergund, es geht um den Bildungsstand“, sagt die Schulleiterin. Und geht mit ihren Schülern auf „Spurensuche“, ein Projekt, in dem Kinder lernen, wie ihre Eltern nach Dortmund kamen.

Die Lehrer an der Kleinen Kielstraße tun alles, um eine echte Stadtteilschule zu organisieren. Sie beziehen ihre Umgebung mit ein. Für die gibt es ein täglich geöffnetes Elterncafé. Mit der Landesentwicklungsgesellschaft, der Eigentümerin des Hannibal-Wohngebiets, besteht ein Vertrag. Vor allem aber hat die Schule ihren Preis für eine neue Pädagogik bekommen. Frontalunterricht, das gibt es dort nicht mehr. „Man muss Unterricht heute individuell machen, man muss schauen: Wo steht das einzelne Kind“, sagt Gisela Schultebraucks.

Mitarbeit: Miriam Bunjes