Wie die DDR Rock'n'Roll stoppen wollte: Leute, tanzt den Lipsi!

Mit einer sozialistisch angehauchten Schrittfolge sollte vor 50 Jahren ein Standardtanz die Ausbreitung des Rock n Roll in der DDR verhindern. Das ging gründlich schief.

Da war der Lipsi schon wieder gestorben: FDJ-Kapelle bei "Weltfestspielen der Jugend" 1973 in Ost-Berlin. Bild: dpa

Nein, es war kein Judo, wie es die Mädels und Jungs auf dem Dessauer Friedensplatz den vorbeischlendernden Passanten weismachen wollten. Sie tanzten, die Musik dazu kam aus dem Kofferradio, die zackigen Bewegungen aus der Hüfte: Rock n Roll in der DDR anno 1958.

Doch die Gruppe um Anführer Felix tanzte zu laut, zu schnell, zu weit auseinander - zumindest aus Sicht von Stasi und Volkspolizei, die 88 Jugendliche festnahmen. Sieben von ihnen, darunter auch Felix, wurde der Prozess gemacht.

"Rock-n-Roll-Banden" wie die Dessauer gab es damals überall im Land. In Ost wie West. Doch für die DDR-Politiker waren sie nicht nur ein Ärgernis, sondern Anlass zum Kampf mit eigenen tänzerischen Mitteln. Eingeläutet mit einem Schlachtruf wie Vogelgezwitscher:

Heute tanzen alle jungen Leute

Im Lipsi-Schritt, nur noch im

Lipsi-Schritt

"Heute" ist 1959: DDR-Chanteuse Helga Brauer besingt die Kriegseröffnung auf dem Tanzparkett. Die Sozialistische Einheitspartei will den Feind, den Rock n Roll, zurückschlagen, der hatte kurz zuvor Elvis Presley in Stellung gebracht, zum Militärdienst in die Bundesrepublik. Der King sollte mit einem Tanz aus der Zone rausgehalten werden: dem lateinamerikanisch angehauchten Standardtanz "Lipsi".

Das klang nach Ananas, Baströcken, Limbo und Südsee, war aber nur eine Abkürzung des Entstehungsortes: Lipsia, Leipzig, Sachsen - nichts mit Südfrüchten und Exotik. Vorgestellt wurde der Lipsi auf der Tanzmusikkonferenz im brandenburgischen Industriestandort Lauchhammer.

Allen hat der Takt sofort gefallen Sie tanzen mit im Lipsi-Schritt

"Allen" ist relativ. Das wusste Helga Brauer aber noch nicht, als sie 1959 vor den Parteioberen antrat. Übersetzt hieß das nämlich so viel wie - niemandem. "Über den Lipsi haben wir uns immer lustig gemacht", erinnert sich die Leipzigerin Loni Nowak. Der Sechsvierteltakt mit der sorgsam sozialistisch ausgewählten Schrittfolge war längst nicht so spritzig wie der Rock n Roll, "den wir tanzen wollten und getanzt haben", sagt Nowak, damals 15 Jahre alt. Gerade das juvenile Auseinandertanzen beim Rock n Roll sollte verhindert werden. Das führte schließlich zu Sittenverfall, meinten die SED-Granden. Damit standen sie nicht allein, auch Eltern und Medien im Westen warnten vor Bill Haley, seinen Comets und anderen Rebellen. Ausschreitungen im Anschluss an Rock-n-Roll-Filme und -Konzerte in ganz Europa waren Beweis genug für den schlechten Einfluss. Der durfte nicht nach drüben schwappen. Dafür sollte der Lipsi sorgen.

Die Partei gab sich alle Mühe, eine Lipsi-Epidemie auszulösen: Sie suchte die besten Lipsi-Tänzer sowie die schmissigste Lipsi-Kapelle des Landes, ließ die Tanzschritte drucken, Lehrfilme drehen und presste mit Eifer Lipsi-Platten, während das DDR-Label Amiga den Tanz anpries wie das Fernsehen heute eine Popcorn-Maschine oder den George-Foreman-Grill: "Na, sehen Sie, Lipsi scheint gar nicht so schwer zu sein. Versuchen auch Sie diesen neuen Tanz. Sie werden begeistert sein. Schon jetzt erreichen uns zahlreiche Dankschreiben, in denen die verblüffend schnelle Heilung vom Rock-und-Roll-Fieber anerkannt wird."

Doch die Lipsi-Krankheit war nicht halb so ansteckend wie das lästige Rock-n-Roll-Fieber. "Die allem Allzuparteilichen eigene Langeweile, die provinzielle Müdigkeit sind unverkennbar in dieser Mischung von lateinamerikanischer Cha-Cha-Vitalität und deutscher Walzerseligkeit", schrieb die Hamburger Zeit im April 1959. "Die DDR-Kulturpolitiker waren kleinbürgerliche Spießer, die haben nicht begriffen, dass der Rock n Roll ein Lebensgefühl einfing, das sich nicht künstlich erzeugen lässt", konstatiert Bernd Lindner, der über die DDR-Jugend am Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum forscht. "Wenn eine finnische Zeitung schrieb, dass der Lipsi ein schöner Tanz ist, dachten die Herren, der Durchbruch des Lipsi stünde kurz bevor - schließlich hatte man den Lipsi zum weltweiten Patent angemeldet." Provinzieller Größenwahn.

Rumba, Boogie, Cha-Cha-Cha

Davon warn schon so viele da

Darum hatte sich auch ein Mann

so einfach über Nacht

Diesen neuen Rhythmus erdacht

Der Mann, der sich einfach so über Nacht den Lipsi erdacht hatte, war Rene Dubianski, Komponist, und ebenso aus Leipzig wie das Tanzlehrerpaar Christa und Helmut Seifert, die die Schrittfolge choreografierten, sowie Walter Ulbricht, der den Befehl gab. Die Tanzschule Seifert existiert auch heute noch. Doch die Geschichte des Lipsi sieht Tanzlehrer Bodo Seifert verkniffen. Darüber sprechen will er nicht. Obgleich die Seiferts dafür den Kunstpreis der DDR bekamen. "Nichts gegen Dubianski oder die Seiferts, der Tanz war gut, aber die Liedzeile bringt es auf den Punkt: Standardtänze gabs schon genug", sagt Lindner, "15- bis 20-jährige Jugendliche wollten etwas anderes, etwas Neues."

Ulbricht sah im Lipsi dennoch die Möglichkeit, die Jugend über die Grenzen der Schulen und Betriebe hinaus zu kontrollieren. Dort musste angesetzt werden, erkannte auch die SED-Kreisleitung in Halle. Außerhalb der Arbeitszeit lag "die Hauptfront des Kampfes gegen Eckensteherei, Rowdy- und Bandentum". Für die hallesche Kreisleitung waren das "Erscheinungen des Klassenkampfes", denn die Dessauer Rock n Roller waren selbstverständlich eine kriminelle Vereinigung. Hatten sie doch mit Felix einen Boss und zahlten mehr oder weniger regelmäßig in eine Kasse, um Fahrten zu Tanzveranstaltungen - damals noch ohne Lipsi - zu organisieren.

Nicht nur die Dessauer Kriminellen waren anders, als der sozialistische Jugendliche zu sein hatte: "Mit hoher Arbeitsmoral, starkem Staatsbewusstsein, unbeugsamer Vaterlandsliebe und Verteidigungsbereitschaft." Dazu kulturvoll, gebildet und bescheiden. Mit der Monotonie des "yeah yeah yeah", dessen Abschaffung Walter Ulbricht einst forderte, und dem Tragen von Nietenhosen - wie es die Dessauer dreist taten - waren diese Kriterien nicht zu erfüllen. "Wer Rock n Roll hörte, wollte kein blaues Hemd, sondern blaue Jeans", sagt Lindner. "Nur überzeugte FDJler tanzten Lipsi", erzählt Nowak, "also niemand aus meinem Freundeskreis."

Doch nicht nur die Jugend enttäuschte die Partei. Auch der Lipsi, mit dem das Zentralkomitee hoffte, Devisen im Ausland einzufahren, spielte dort eine noch geringere Rolle als in der DDR. Als Helga Brauer mit dem "Messe-Lipsi" den Durchbruch in den USA postulierte ("Kinder riefen einfach toll, dieser Tanz ist wonderful"), hatte sich der Tanz "Made in Germany" endgültig lächerlich gemacht.

Die DDR stellte nach einem Jahr die große Propagandapresse ab. Mit dem "Orion" versuchten es Partei und FDJ später zwar noch einmal gegen den Twist, doch mit geringerem Aufwand und gleichem Misserfolg. "Die DDR-Politiker haben es immer wieder geschafft, sich der Solidarität der Jugend zu entledigen", erklärt Lindner, "das fing mit solchen Sachen wie dem Lipsi an, führte zu einer totalen Abwendung vom Staat und zum Mauerfall." So hat der Tanz am Ende doch viel erreicht.

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