Die Brutalität der Bürokratie

In seinem neuen Buch „Insel der Kannibalen“ erinnert der französische Historiker Nicolas Werth an eines der erschütterndsten Kapitel des Stalinismus: die Verschleppung der „Kulaken“

Das „Schwarzbuch des Kommunismus“ (1998) war ein weitgehend misslungenes Projekt. Doch: Der Beitrag des französischen Historikers Nicolas Werth über den Stalinismus gehört seitdem zum Fundiertesten, was zu diesem Thema geschrieben wurde. In seinem neuesten Buch zeigt der Autor nun an einem Verbrechen aus dem Jahr 1933, wozu die stalinistische Manie der Kontrolle und eine gnadenlos gewaltbereite Bürokratie in der Lage waren.

Am Anfang stand im Februar 1933 ein „großartiger Plan“ von Genrich Jagoda, dem Leiter der politischen Polizei, und Matwej Berman, dem Chef der Gulag-Verwaltung. Danach sollten „die antisowjetischen Elemente“ und die Bauern („Kulaken“), die trotz der brutalen Repressionswelle von 1930 der Kollektivierung immer noch widerstrebten, aus den großen Städten nach Westsibirien deportiert werden. Dort würden sie in bewachte „Sondersiedlungen“ einquartiert, um die unwirtliche Gegend land- und forstwirtschaftlich nutzbar zu machen.

Der ökonomische Hintergrund erklärt die Motive für den monströsen Plan: Nach der Missernte von 1932 herrschte im Frühjahr 1933 in weiten Teilen der Sowjetunion eine Hungersnot, die so viele Menschen in die Städte trieb, dass den Bauern am 23. Januar 1933 verboten wurde, Eisenbahnfahrkarten zu kaufen. Werth schildert, wie Jagoda und Berman zudem mit neuen Inlandspässen alle schon in die Städte geflohenen Menschen sowie die verarmte städtische Unterschicht überprüfen wollten. Wer nicht den willkürlichen Aufenthaltskriterien entsprach, sollte nach Westsibirien verschickt werden. Auf dem Land stiegen gleichzeitig der Kollektivierungs- und Abgabendruck auf die Bauern und damit die Zahl renitenter „Kulaken“.

Insgesamt waren nach dem Plan vom Februar 1933 etwa 2 Millionen Menschen für die Deportation vorgesehen. Täglich sollten von den Sammelstellen entlang der Transsibirischen Eisenbahn 4.000 Menschen bis zu tausend Kilometer auf Flüssen nach Norden in fast unbewohnte Gebiete verschickt werden.

Ganz abgesehen von humanitären Gesichtspunkten war der Deportationsplan ökonomisch völlig unsinnig. Die Deportationskosten beliefen sich pro „Kulaken“-Familie auf 1.000 Rubel. Ihre Enteignung brachte durchschnittlich ganze 560 Rubel, und ein großer Teil dieses Erlöses versickerte bei den korrupten Entkulakisierungsbehörden, so Werth.

Restlos aberwitzig wurde der Versuch, Bauern und „antisowjetische Elemente“ aus Städten zu Siedlungskolonisten zu machen. Es fehlte nicht nur an Werkzeugen, Pferden und Baumaterial, die Menschen aus den Städten waren solche Arbeiten auch nicht gewöhnt. Erschwerend kam hinzu, dass die Deportierten schon in den Sammelstellen nach tagelanger Fahrt ohne Essen entkräftet und mit nichts als ihren Kleidern auf dem Leib ankamen. Achtzig Prozent waren „Halbleichen“, wie ein Arzt feststellte.

In den Großstädten sammelten die Behörden nach ganz willkürlichen Planvorgaben einfach Arme, Bettler, Behinderte, alte Menschen, aber auch beliebig herausgegriffene Passanten ein. Die Bürokraten nutzten zudem die Planvorgaben dazu, überfüllte Gefängnisse sowie Obdachlosenasyle und Altersheime zu räumen. Zum Entsetzen der lokalen sibirischen Behörden trafen danach Züge von bis zu 6.000 „deklassierten Elementen“ ein, also vor allem Kleinkriminelle.

Der Fall des Lagers auf der Insel Nasino ist gut dokumentiert, und Werth zeigt daran das ganze Ausmaß der Katastrophe. Der Chef der Kommandantur in Alexandro Wachowskaja erfuhr Anfang Mai 1933, dass in Kürze 4.900 „deklassierte Elemente“ ankommen würden. Er verfügte über keinerlei Infrastruktur und Nahrungsmittelvorräte und beschloss, die Deportierten auf der 3 Kilometer langen und 500 Meter breiten Insel im Fluss Ob ausladen zu lassen.

Zu essen bekam jeder 500 Gramm Mehl pro Tag. Mangels geeigneter Gefäße füllten die Häftlinge das Mehl in Mützen und Schuhe, vermischten es mit Wasser und aßen den Rohteig, denn Backöfen gab es so wenig wie Brennholz. Werth schreibt, dass schon nach wenigen Tagen die cleversten unter den Ganoven die Nahrungsverteilung übernahmen und ein Terrorregime errichteten. Mindestens ein Dutzend Fälle von Kannibalismus sind belegt.

Am 27. Mai kamen weitere 1.200 „städtische Elemente“ auf die Insel. Als die Behörden nach einem Monat die Katastrophe bemerkten, wurde das Lager aufgelöst: Von den 6.100 angelieferten Menschen lebten noch 2.586. Der Rest war verhungert oder beim Versuch, zu fliehen, ertrunken.

In den Behördenakten wurde das Drama als „der Zwischenfall von Nasino“ heruntergespielt. Dass Werth ihn in seiner wahren Dimension darstellen kann, liegt an dem Journalisten Wassili A. Welitschko, der ab Juli 1933 recherchierte und in 20 Briefen Stalin direkt darüber informierte. Eine Untersuchungskommission bescheinigte den lokalen Behörden „moralische und politische Degeneration“. Einige Verantwortliche wurden milde bestraft, aber die politisch Mächtigen, die den Plan ausgeheckt hatten, blieben unbehelligt. Ebenso wenig belangt wurden die Bürokraten, die zwar die Deportation durchführen ließen, aber die nötige Infrastruktur für eine Kolonisierung des öden Landes vollständig vernachlässigten und die Menschen damit buchstäblich zum Hungertod verurteilten.

Wie viele der zwei Millionen Deportierten umkamen, flohen oder in Sibirien überlebten, lässt sich nicht mehr feststellen, da keine Gesamtzahlen zur Verfügung stehen. Nicolas Werth hält sich an das, was er einwandfrei belegen kann, und das ist in seiner Dimension entsetzlich genug. Die bürokratische Kälte und Brutalität, mit denen „die Sonderbesiedelung“ Westsibiriens organisiert wurde, interpretiert er als „Entzivilisierungsprozess“. Gerade weil er sich nicht auf Spekulationen und problematische Vergleiche einlässt, überzeugt und erschüttert sein Buch.

RUDOLF WALTHER

Nicolas Werth: „Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag“. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz. Siedler Verlag, Berlin 2006, 222 Seiten, 19,95 Euro