Die Gelassenheit des Unentwegten

SOZIALER UNTERNEHMER Nils Kleemann vermisste an Regelschulen die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Seit 16 Jahren entwickelt er die Greifswalder Montessori-Schule in der vorpommerschen Provinz immer weiter. Nun beginnt sie, auf die Staatsschule auszustrahlen

Das Jahr endet so wie es begonnen hat. Im Januar demonstrierten 20.000 Menschen vor dem Stuttgarter Landtag, um ein Wahlversprechen einzuklagen: Die Landesregierung hatte versprochen, die Förderbedingungen für freie Schulen zu verbessern. Doch das kam nicht. Inzwischen geht es anderswo in der Republik nicht mehr ums Verbessern, sondern ums Kürzen: In Sachsen und Thüringen werden die freien Schulen an die Leine genommen, die ohnehin mageren Zuschüsse gehen zurück. In Mecklenburg-Vorpommern müssen Gründer drei statt zwei Jahre warten, ehe sie Anrecht auf einen staatlichen Zuschuss haben. Hintergrund ist, dass die Privatschulen ihren Anteil an den Schülern ausbauen – während die Schülerzahlen insgesamt sinken. Im internationalen Vergleich sind knapp neun Prozent immer noch wenig, aber den Kultusministern trotz des Grundrechts auf Privatschulen ein Dorn im Auge – sie wollen eine härtere Gangart gegen private Konkurrenten einschlagen. Mit Spannung schaut man daher auf die Berliner Volksinitiative „Schule in Freiheit“. Mit Unterstützung des „Tatort“-Kommissars Axel Prahl, des Autors Wladimir Kaminer und fast 30.000 Unterzeichnern hat sie es in die zweite Runde geschafft. Das Berliner Landesparlament muss sich nun damit befassen: mehr Geld für die freien Schulen – und mehr Freiheit für staatliche Schulen. Die Initiative hat das Recht, sagt Kampagnenleiter Kurt Wilhelmi, „ihren Vorschlag im Abgeordnetenhaus vorzustellen“. Auch in Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen sind weitere Aktionen geplant. (taz)

AUS GREIFSWALD ANKE LÜBBERT

Was nicht gut ist, muss man eben besser machen. So etwa lautet das Motto von Nils Kleemann, Schulleiter der Greifswalder Montessori-Schule. Kleemann, kurze schwarze Haare, Schriftzug „California Surfing“ auf dem Hemd, hat die Gelassenheit eines Mannes erworben, der Dinge nicht nur besser machen will, sondern auch weiß, dass er sie besser machen kann.

Gleich nach der Wende ging Kleemann als unzufriedener junger Lehrer auf einen Montessori-Lehrgang nach Baden-Württemberg. „Ich hatte das Gefühl, dass Schule, wie ich sie kennen gelernt habe, so nicht laufen muss“, sagt er. „Also habe ich mich auf die Suche nach etwas anderem gemacht.“ Maria Montessori hat unter dem Motto „hilf mir es selbst zu tun“ eine Pädagogik entwickelt, die Kinder für fähig hält, selbstständig und eigenverantwortlich zu lernen und zu handeln. Das ist für ihn eine Grundlage, auf der sich etwas aufbauen lässt. „Ich tue mich schwer damit zu sagen: Das ist nun der Weisheit letzter Schluss“, sagt Kleemann. „Nach den Wahrheiten, die uns in der DDR-Zeit vorgesetzt wurden, war ich von Anfang an ziemlich zurückhaltend damit zu sagen, Montessori ist die einzige Lösung.“

In Ostdeutschland leben an vielen staatlichen Schulen noch alte DDR-Strukturen und Werte weiter. Direktoren regieren hier oft als Patriarchen, demokratische Strukturen wie Schülerversammlungen und Elternbeiräte existieren manchmal höchstens auf dem Papier, der Klassensprecher wird von den Lehrern vorgeschlagen und Pünktlichkeit, Disziplin und Leistung stehen an erster Stelle. Die Nachfrage nach freien Schulen war gleich nach der Wende hoch.

Vor diesem Hintergrund und in der Aufbruchsstimmung der Nachwendezeit hat Kleemann seine eigne Schule gegründet – mit 26 Jahren. Im Jahr 1994 gab es eine erste Klasse, einen Lehrer, 20 SchülerInnen. Mittlerweile gehen in Schule 245 Kinder, dreimal so viele bewerben sich jedes Jahr um einen Platz. Heute lernen die „Monte-Kinder“, wie Kleemann seine Schüler nennt, in sogenannten jahrgangsübergreifenden „Ebenen“, 1., 2., 3. Klasse und 4., 5., 6. Klasse gemeinsam. Auf dem Gelände gibt es einen Hort und einen Kindergarten.

Sieben von zehn Schülerinnen und Schülern machen Abitur. „Für die Eltern spielt das eine Rolle“, sagt Kleemann, „ich kann es ihnen auch nicht verdenken. Wir leben in dieser Gesellschaft und nicht in einer Luftblase.“

Seine Schule ist für Kleemann nicht nur Arbeitsplatz, sie ist ein Zuhause. Durch die bunt gestrichenen Gänge in dem dreistöckigen Haus mitten in einem Greifswalder Plattenbauviertel stromert seine Tochter am frühen Nachmittag auf der Suche nach ihm – sie will zum Musikunterricht, er soll endlich ihr Fahrrad abschließen. Sein Haus hat Kleemann in der Nähe der Schule gebaut, und selbst am Wochenende kann man ihn in der Schule antreffen – irgendjemand muss ja die Räume für Projektveranstaltungen auf- und zuschließen.

Die Lehrerinnen, die die Lehrpläne eigenständig entwickeln, hocken nach Schulschluss in Diskussionen verstrickt in den Klassenräumen. Die Schüler rennen durch die Gänge. Und auch Kleemann selbst hat auf dem Weg durch seine Schule den zügigen Schritt von einem, der immer auch noch etwas anderes vorhat. Alle paar Meter hält er an, um eine Mutter zu begrüßen, mit einer Gruppe Schüler zu reden. Eine Lehrerin kommt ihm entgegen. „Hast du gesehen, wir sind in der Musikzeitschrift!“, ruft sie ihm im Vorbeigehen zu. Obwohl die Schule so etwas wie ein Zuhause für Kleemann ist, ist sein kleines Büro wohl der am schlechtesten renovierte Raum des Hauses. Ein winziger Schreibtisch, darauf nichts als ein Laptop, Ordner im Regal, an den ungestrichenen Wänden hängen Tapetenreste. Kein Ledersessel, kein Empfangsraum, keine gerahmten Familienbilder. Für Repräsentation hat Kleemann keine Zeit. Er macht immer was Neues.

„Wenn der Staat es nicht hinbekommt, Schulen zu betreiben, in denen Kinder sich gut entwickeln können – dann muss man diese Schulen eben selber machen.“ Sagt Kleemann. Und: „Wenn es in Deutschland Schulen wie in Finnland gäbe, würde ich auch keine Schule gründen.“

In der finnischen Gemeinde Jyväskylä koste jeder Grundschüler den Staat rund 8.000 Euro, in Deutschland seien es nur 3.031. „Mit diesen Zahlen“, sagt Kleemann, „lässt sich nicht alles, aber schon viel erklären.“

Mehr Geld als dem Schulleiter einer staatlichen Schule steht Kleemann nicht zur Verfügung, im Gegenteil. Freie Schulen müssen in Deutschland mit einer Kostendeckung von 85 Prozent leben, im Fall der Greifswalder Montessori-Schule sind das 2.576 Euro. Dazu kommen Gemeindemittel und Elternbeiträge, die im Durchschnitt bei 120 Euro pro Kind und Monat liegen.

Für die exzellente Technikausstattung mit Schlagzeug und Vibrafone in der neu gebauten Aula hat Kleemann Anträge geschrieben, genauso wie für die Ausstattung seiner Klassen mit Beamern, Scannern und Laptops. „Ich verstehe da die staatlichen Schulen nicht“, sagt er. „Die gucken neidisch auf uns und hätten doch die gleichen Möglichkeiten, sich für Fördermittel zu bewerben.“

Kritiker von Privatschulen führen oft an, dass es Aufgabe des Staates ist, gute Schulen für alle zur Verfügung zu stellen, und dass private Schulen nur den Privilegierten helfen. Kleemann vertritt die These vom mündigen Bürger. Wer ist der Staat, wenn nicht wir? Wer trägt die Verantwortung, wenn nicht wir? „Verantwortung“ ist für ihn ein zentraler Begriff. Die wolle an staatlichen Schulen keiner übernehmen – die Schulleiter nicht, die Lehrer nicht. Das habe er selbst leidvoll gelernt als Lehrer, aber auch in der Zusammenarbeit mit staatlichen Schulen.

„Die Staatsschule beneidet uns – und hätte doch die gleichen Möglichkeiten“

NILS KLEEMANN

Seit einem Jahr gibt es an der Schule ein Angebot für die Schulabgänger seiner Schule. An der Greifswalder Humboldt-Schule können die Kinder ab der 7. Klasse einen reformpädagogischen Zweig besuchen. So kritisch Kleemann die staatlichen Schulen auch sieht, ihn reizt die Auseinandersetzung mit ihnen. Schon seit Jahren versucht er eine Kooperation umzusetzen, das Modell ist ein Anfang. Hier beginnt die pädagogische Innovation seiner privaten Schule auf die des Staates überzugreifen. Irgendwo muss sich die Schule schließlich weiterentwickeln können.

Kleemann sieht sich selbst als „sozialen Unternehmer“, als jemand, der Projekte anstößt und Schule entwickelt. „Eigentlich wollte ich ja nur Lehrer sein“, sagt er und kokettiert ein bisschen damit, dass er die Bedingungen, unter denen er gerne Lehrer ist, erst selber schaffen musste. Mittlerweile kommt er kaum noch dazu, Unterricht zu geben.

Für sein Unternehmen Schule hat sich Kleemann in der Stadt und in ganz Mecklenburg-Vorpommern Verbündete und Kooperationspartner gesucht. Im Schulamt und auf der Verwaltungsebene. Die Greifswalder Kinderbuchautorin Antonia Michaelis hat für die Schule ein Theaterstück geschrieben, das die Schülerinnen und Schüler in Kooperation mit dem Theater aufgeführt haben. Ines Darr, die quirlige Museumspädagogin des Pommerschen Landesmuseums, schwärmt von seiner kompetenten, zuverlässigen und flexiblen Art, seinen „unglaublich schnellen Reaktionen in der Zusammenarbeit.“ Neben der Arbeit in seiner Schule ist Kleemann Dozent für Erziehungswissenschaft an der Universität Greifswald. Er bildet künftige Lehrer aus.

Auf einem Informationsabend für zukünftige Eltern von Montessori-Schülern fragt Kleemann provokant: „Muss es denn wirklich Montessori sein?“, und legt den überraschten Eltern nahe, doch einfach selbst eine Schule zu gründen – eine, die ihnen gefällt. Das ist ernst gemeint.

Denn im Grunde genommen ist Kleemann selbst immer noch auf der Suche nach dem richtigen Weg. Vielleicht macht diese Haltung einen Teil seines Charmes aus, dem die Eltern am Ende des Elternabends zuverlässig verfallen sind. Aber vermutlich werden sie keine eigene Schule gründen. Das hat ja Kleemann schon für sie gemacht.