Lasst das revolutionäre Layout sprechen!

Als die Revolte texten lernte: In den Jahren zwischen 1969 und 1972 agitierte das Anzeigenblatt „Agit 883“ – eine der bedeutendsten Publikationen der undogmatischen und radikalen Linken der Zeit. Ein neuer Sammelband dokumentiert die Ausgaben und erläutert die Zusammenhänge ihres Entstehens

Zahllose Faksimiles zeigen, wie man „zuvor gewohnte grafische Orientierungen, Seh- und Lese-gewohnheiten“ außer Kraft setzte

VON ANSGAR WARNER

Im Mai 1970 durchsucht die Berliner Polizei bei einem Großeinsatz Wohnungen, Pkw und eine Druckerei: Ziel ist die Redaktion der Agit 883, einer Zeitung, die kurz darauf der Spiegel als „Hausblatt der anarchistischen Kommandotrupps“ bezeichnet. Die Staatsanwaltschaft erhebt gegen die Redakteure Anklage wegen der Aufforderung zur Verübung von Straftaten wie: „Gefangenenbefreiung, Mord und Totschlag, schwere Körperverletzung, schwere Brandstiftung und Gefährdung durch Explosionen“. Mochte der Deutsche Herbst noch fern sein, das Militanzpotenzial Westberlins konnte sich bereits sehen lassen. Kaufhäuser brannten, Andreas Baader, einer der Brandstifter, wurde nach seiner Inhaftierung gewaltsam befreit, und auf die Polizei prasselten bei Demonstrationen Pflastersteine nieder. Agit 883 stand für die Behörden damit in direktem Zusammenhang: prangten doch auf den Offset-Collagen der in Kneipen und Buchhandlungen verteilten Postille Parolen wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Kill the Cops“ oder „Die Rote Armee aufbauen!“

Man kann es auch entspannter sehen: Agit 883 war zwischen 1969 und 1972 schlicht die „bedeutendste Publikation der undogmatischen und radikalen Linken in Berlin“. Das schreiben jedenfalls die Herausgeber der Dokumentation „agit 883“, die sich mit „Bewegung, Revolte und Underground in Westberlin“ beschäftigt. Bewusst liegt der Schwerpunkt nicht nur auf Begriffen wie Subkultur und Gegenöffentlichkeit, Stadtguerilla oder Anarcho-Syndikalismus. Man lässt das revolutionäre Layout sprechen: Zahllose Faksimiles zeigen, wie man „zuvor gewohnte grafische Orientierungen, Seh- und Lesegewohnheiten“ außer Kraft setzte. Da dem beim Verlag Assoziation A erschienenen Band eine CD mit Scans der überlieferten Ausgaben beiliegt, kann der Leser sich auch ganz autonom auf eine Zeitreise in den typografischen Untergrund begeben.

Angefangen hat alles im Sommer 1967. Als die Hetzkampagne der Springer-Presse gegen die studentische Opposition ein erstes Todesopfer fordert, kontert eine Gruppe von Publizistikstudierenden: „Wir lamentieren, wir üben Kritik, wir protestieren. Ist das genug? Wir glauben es nicht. Wir werden deshalb eine neue Zeitung machen.“ Die sollte für alle Berliner lesbar sein und trotzdem „kritisches Bewusstsein wecken“.

Aufpeppen wollte man den aufklärerischen Ansatz durch die Beimischung von „Karikatur, Sex, Gag und Pop“. Das Versprechen einer alternativen Tageszeitung wurde zwar nicht eingelöst, doch dafür erschien ab Sommer 1969 die Agit 883 als linkes Anzeigenblatt mit politisch-redaktionellem Teil. Die gelungene Mischung ermöglichte, sich neben den APO-Flaggschiffen Konkret und Rote Pressekonferenz, aber auch lokalen Szene-Magazinen zu etablieren.

Das Geflecht der Westberliner Subkultur spiegelt sich nicht nur in den privaten Kleinanzeigen der Agit 883, sondern auch in selbst gezeichneten Werbegrafiken: „Pinten“ luden ironisch zum Verbringen der „kleinbürgerlichen Freizeit“, revolutionäre Buchläden priesen linken Lesestoff, und das sozialistische Anwaltskollektiv der Herren Mahler, Eschen und Stroebele warb für den Fall des Falles.

Natürlich wurde in der Agit 883 auch konventionelle Politik getrieben, dafür sorgten wechselnde Redaktionen von der „Gruppe A“ über die „Kommunistischen Rebellen“ bis zu den „RäteanarchistInnen“. Auffällig war die ideologische Offenheit: Agit 883 bot ein Forum, bei dem einerseits der Klassenfeind sein Fett wegbekam, wo aber andererseits die spießige Sozialistische Einheitspartei Westberlins genauso auf Kritik stieß wie der Aktionismus der ersten RAF-Generation – deren Ansatz kanzelte man als „Leninismus mit der Knarre“ ab. Zur redaktionellen Leitlinie gehörte aber auch, dass man das „Stadtguerilla-Konzept“ der RAF dokumentierte, doch das war genauso selbstverständlich wie der Abdruck des inoffiziellen Gründungsdokuments der Anarcho-Band Ton, Steine, Scherben.

Die Zweiteilung zwischen einem „guten 1968“ und der „verderblichen“ RAF-Gewalt, das ist die These der Herausgeber des Agit-883-Bands, ignoriert die komplexen Zeitzusammenhänge. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass diese Ambivalenz gerade auch für die popkulturelle Ästhetik gilt. Die Bildzitate des Bands verweisen zwar darauf, das Autorenteam vertieft diesen Aspekt aber nicht weiter – leider! Denn als die Agit 883 professionell Westberlin agitierte, geißelte Hans-Magnus Enzensberger im Kursbuch die mangelnde Medienkompetenz der Linken: In ihrer Freizeit würden sie Produkte der modernen Kulturindustrie konsumieren, im politischen Alltag jedoch auf „veraltete Kommunikationsformen und in esoterische Handwerkelei“ ausweichen. Für die Macher der Agit 883 galt das gerade nicht: Was damals ganz selbstverständlich zusammenging, zeigt ein professionell gezeichneter Comicstrip aus der Feder des Kunststudenten und Terroristen Holger Meins, den die Redaktion im Herbst 1970 auf das Titelblatt setzte. Dort hindern Fabrikarbeiter den Chef eines maroden Unternehmens an der (Kapital-)Flucht in die Schweiz – durch eine rechtzeitig im Firmenwagen platzierte Autobombe. Die sternförmigen schwarzen Zacken der Explosion im letzten Bild erinnern nicht zufällig an das einprägsame Markenzeichen der RAF.

rotaprint 25 (Hrsg.): „agit 883 – Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969–1972“. Berlin 2006, 296 Seiten. Die beigelegte CD dokumentiert sämtliche Ausgaben der Agit 883, 22 €