Sehnsucht nach Legoland

Wo viele Leerstellen sind, ist auch jede Menge Raum zum Verdichten: Der 24-jährige Dramatiker Dirk Laucke erzählt über soziale Verlierer im deutschen Osten. Vor kurzem hat er den Kleist-Förderpreis gewonnen, seitdem beschleunigt sich in seinem Leben alles. Gerade feilt er an einem Drehbuch

Beinahe ungläubig beobachtet er sich dabei, wie sein Traum Beruf wird

VON ERIK HEIER

Was zuerst auffällt: sein schneller Gang. Links und rechts fliegt die Wiener Straße vorbei. Kreuzberg, ein Herbstfilm nach trübem Regen. Nicht hastig geht er, nicht hektisch. Man könnte eher sagen: Er geht gierig.

Später, im Gespräch, wird Dirk Laucke von seinem „Komplex“ erzählen. So nennt er seine Angst davor, nicht richtig ernst genommen zu werden. Als Dichter, als Dramatiker, neuerdings auch als Drehbuchautor. Dabei hat er gerade einen der wichtigsten Nachwuchspreise für Dramatiker gewonnen. Zum elften Mal vergaben die Stadt Frankfurt und die Dramaturgische Gesellschaft den Kleist-Förderpreis. 79 Stücke waren eingesandt worden. Lauckes „alter ford escort dunkelblau“ gewann. Bewerber durften höchstens 35 sein. Laucke ist 24. Das ist sehr jung.

Diesen Komplex hatte er schon als Jugendlicher, sagt Dirk Laucke. Bei frühen Prosaversuchen. Später bei ersten Lesungen mit Dichtern in seiner Heimatstadt Halle. Mit 17, 18 Jahren war er da stets „der Kleine“. Der, der nicht richtig dazugehörte. Wie er davon erzählt, meint man, dass Zurückhaltung und Mitteilungsbedürfnis in ihm einen inneren Disput ausfechten. „Ich möchte ernst genommen werden für das …“ – er stockt, atmet tief, ein schmaler junger Mann mit wachen, blauen Augen und starkem Kinn. „Ich möchte einfach nur ernst genommen werden.“ Diese Angst muss ein ziemlich zäher Gegner sein.

Wir haben uns an die Außentische einer Bar in der Wiener Straße gesetzt. Der Wind treibt kalte Regentropfen von den Bäumen herab. Laucke bestellt einen Kirsch-Bananen-Saft mit Eis. Er sagt, dass er in den letzten Monaten sehr gealtert sei. Das Studium, die Arbeit, der Stress. Schreiben, schreiben. Termine, Termine. Abgabetermine. Fast ständig feilt er am Drehbuch für den Spielfilm „Zeit der Fische“: „Ich arbeite wie eine Hafennutte.“ Eine Mail an den Autor dieses Textes schickt er um 3.49 Uhr raus. Mitten in der Nacht.

„Zeit der Fische“ ist der Diplomfilm eines befreundeten Regiestudenten der HFF Potsdam-Babelsberg, Heiko Aufdermauer. Das Team hat dafür eine Produktionsfirma gewonnen. Zwei Fernsehsender finanzieren das eine halbe Million Euro hohe Budget mit. Die Berlin-Brandenburgische Filmförderung Medienboard ist auch im Boot. Der Film erzählt eine Dreiecksgeschichte im riesigen Plattenbauviertel von Halle-Neustadt. Leere Plattenbauten gibt es viele im Osten Deutschlands. Früher nannte man sie „Neubauten“. Das klang optimistischer und ist sehr lange her.

Wenn von schrumpfenden Städten im Osten Deutschlands die Rede ist, dann oft auch von Halle. Die Stadt an der Saale verlor nach der Wende ein Drittel ihrer Bevölkerung. Dirk Laucke wuchs selbst in einem Plattenbau auf. Nicht in Halle-Neustadt, aber in Halle. Zwar ist er zu jung, um bewusst miterlebt zu haben, wie die DDR zerbrach. Aber er sah die Trümmer, die sie mancherorts hinterließ. Trümmer in den Landstrichen, Trümmer in den Seelen.

– Dann bist du so was wie ein Einheitsgewinnler, oder?

Für einen Moment guckt er unsicher: „Bin ich das?“

Alles in seinem Leben beschleunigt sich derzeit. Alles fließt, alles bekommt eine Richtung. Vor gerade zwei Jahren hat Laucke sein Psychologiestudium in Leipzig abgebrochen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an.

Er zog nach Berlin in eine Kreuzberger Wohngemeinschaft, schrieb sich 2004 an der Universität der Künste ein. Szenisches Schreiben. Von der Aufnahmeprüfung weg lud ihn der Gastdozent und Dichter Tankred Dorst zu einer Talentlesung bei den Salzburger Festspielen ein.

Dirk Lauckes Sätze in seinen Stücken sind kurz, lakonisch, von spröder Poesie. Er kondensiert, er verdichtet: die Dialoge, die Situationen, das Leben. Die verödeten Plattenbauten Halle-Neustadts, das Mansfelder Land. So viele Leerstellen. Da ist auch jede Menge Raum zum Verdichten.

In „alter ford escort dunkelblau“ stapeln drei Männer Bierkisten. Das Getränkelager im Mansfelder Land ist riesig. Schorse, Boxer und Paul sind, was man jetzt „prekäre Existenzen“ nennt. Fester Job weg, Ehe weg, Zukunft weg. Schorse ist bei seiner Ex rausgeflogen, seinen Sohn sieht er selten. Boxers Mutter sprang vom Balkon. Paul ist der Sohn des Chefs, er soll den Laden mal übernehmen. Dafür lohnt sich kein Abi.

Eines Morgens kachelt das Trio im alten Ford einfach am Getränkelager vorbei, spontan, mit Vollgas und Schorses Sohn auf dem Hintersitz. Im Ford dröhnt AC/CD. Highway to hell. Dieses eine Mal will Schorse ein guter Vater sein. Jeder träumt seine Sehnsucht nach Freiheit irgendeinem Ort entgegen. Für Schorses Sohn ist es Legoland. Sie fahren los. Eine absurde Endstation Sehnsucht, die Ferne bleiben muss. Ganz weite Ferne.

Dirk Laucke hat auch mal Kisten gestapelt im Mansfelder Land. Nicht nur das. Minder schöne Arbeitsgelegenheiten kennt er vom eigenen Nebenjobben: Möbelpacken, Inventur machen, Malern. „Ich kann die Haltung der Langzeitarbeitslosen verstehen: Wenn ihr auf mich scheißt, scheiße ich zurück.“ Für die Unterschichtendebatte hat er nur Häme übrig: „Fein, dass sich die Politik mit einem Thema beschäftigt, das es gibt, seitdem der Kapitalismus existiert.“ Schönen Gruß an Kurt Beck noch.

So lässt Laucke seinen Schorse sagen: „gibt noch was wo ich ne ahnung hab. kein geld ham. kein job ham. job ham un trotzdem kein geld.“ Bei der Laudatio in Frankfurt lobt der Schweizer Dramatiker Igor Bauersima: „Ihr Stück ist voll von Welt, und zwar dieser Welt, wie sie sein kann, und auch sein soll. […] Ihr Stück ist eine Hinwendung zum Menschen, hin zur Welt. Es ist ein Stück Aufklärung.“

Der Kleist-Förderpreis bedeutet außer einer Prämie von 7.670 Euro auch eine Uraufführungsgarantie. „alter ford escort dunkelblau“ läuft Ende Januar in Osnabrück. Nicht Halle, noch nicht. Aber immerhin.

Zum Kistenstapeln im Getränkelager brauchen Männer kein Abi

Beinahe ungläubig beobachtet Laucke sich dabei, wie sein Traum mehr und mehr Beruf wird. „Ich finde es toll, dass ich das so sagen kann. Dass ich eine Resonanz kriege.“ Vorsichtig entlässt er diese Worte ins ungeschützte Freie. „Dass ich davon leben – zu können – scheine.“ Es scheint, als würde er ihnen bange hinterherhören und als fiele er unversehens in den Sprachduktus seiner Dramen dabei. Als wären ihm diese Worte irgendwie noch etwas unheimlich.

Er hat am Abschiebedrama „Hiergeblieben!“ mitgeschrieben. Das wurde im vergangenen Jahr erstmals vom Berliner Grips Theater gespielt. Der „alte ford“ brachte ihn zum Jungautorenworkshop des Theatertreffens 2006 in Berlin und zum Autorenlabor am Düsseldorfer Schauspielhaus. Inklusive Stipendium für die laufende Spielzeit. Vor ein paar Wochen wurde das Stück in den Münchener Kammerspielen szenisch gegeben. Die Rolle von Schorses Exfrau las Julia Jentsch. Die Dinge kommen in Gang.

Dirk Laucke weiß, was er will. Viele seiner Freunde, sagt er, wüssten nur, was sie nicht wollen. Vielleicht ist das ein Symptom seiner Generation, die manche Soziologen die „verlorene Generation“ nennen. Einer Generation, die auf sich allein gestellt ist. Der ihre Eltern nicht helfen können, weil für diese der Systemwandel schlicht zu spät kam. Andererseits ruft irgendeiner eine Generation aus: Generation X, Generation Golf, Generation Hartz IV. Schubladen können gewaltig knirschen.

– Oder wie würdest du deine Generation nennen?

In diesem Moment fegt noch ein Windstoß durch die Bäume der Wiener Straße. Fleischige Tropfen hämmern nieder. „Vielleicht Generation, die im Regen steht“?

Er grinst. Später kommt die Sonne durch.