Wir Kinder der Eiszeit

SCHLAGLOCH VON ILIJA TROJANOW Abendessen auf dem Kreuzfahrtschiff: 15 Ansichten zum gefährlichen Wetter

■ ist Schriftsteller und Weltensammler. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Juli Zeh: „Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“ (Hanser Verlag, 2009).

Neulich, auf einem Schiff in der Antarktis wurde am letzten Tag einer Kreuzfahrt über den Klimawandel diskutiert, einige Tage zuvor war der Klimagipfel in Cancún unverbindlich zu Ende gegangen. Das Schiff stampfte eifrig durch die berüchtigte Drake-Passage, und man ließ es sich gerne gefallen, denn der Zirkumpolarstrom, der in jedem Augenblick einhundertfünfzig Millionen Tonnen Wasser um den südlichsten Kontinent schleudert, garantiert ein lebensfreundliches Klima auf Erden, auch wenn er der individuellen Befindlichkeit abträglich sein kann. Die Lektoren an Bord (kompetente Wissenschaftler, die ereignisarme Seetage mit kundigen Vorträgen füllen) hatten über den aktuellen Stand der Wissenschaft referiert; überspitzt zusammengefasst lässt sich sagen, dass den vom Menschen mitverursachten Klimawandel abzustreiten mittlerweile intellektuell so schwachsinnig ist wie die Leugnung des Holocaust.

Es grüßt die Fleischportion

Auch hatten die Lektoren einige überraschende Zahlen aufgetischt, etwa dass ein Veganer, der einen Geländewagen fährt, einen kleineren CO2-Fußabdruck hinterlässt als der Fahrer eines Dreiliterautos, der sich seine tägliche Fleischportion schmecken lässt.

Die Diskussion konnte also beginnen: Ein Deutscher erklärte, er sei bereit, auf einen Teil seines Wohlstands zu verzichten, aber nur, wenn er nicht als einziger kürzertrete. Ein US-Amerikaner erklärte, nur ein um ein Vielfaches teuerer Sprit würde seine Landsleute zum Sparen anregen, aber das wüssten die Auto- und Erdöllobbys zu unterbinden. Eine Schweizerin plädierte für mehr Bildung, ohne zu erklären, welche Bildung ihr vorschwebt (schließlich sind die meisten Lobbyisten hochgebildet). Ein Brite trat für die Atomenergie ein, damit die Forschung an der Nuklearfusion weitergehen könne. Ein Kanadier legte nahe, dass wir die Erwärmung nicht aufhalten könnten (selbst wenn wir uns ab morgen einsichtig nachhaltig verhalten, die nächsten fünfzig Jahre dürften unter dem Diktat der schon erzeugten negativen Folgen stehen), weswegen es sinnvoller sei, alle Mittel in die Anpassung zu investieren – worauf die versammelten Wissenschaftler vor Geoengineering warnten, jenen ambitionierten Maßnahmen, mit technologischen Mitteln die Folgen des ungezügelten technologischen Fortschritts zu dämmen. Und immer wieder erklang die alte Klage, dass es der Menschen zu viele gebe. Auch in dieser Frage schieden sich die Geister, ob man nur durch Zwang oder durch Ansporn etwas verändern könne.

Sind wir schlauer als Mikroben?

Es saßen Menschen aus 15 verschiedenen Staaten im Vortragssaal, das opulente Abendessen stand bald an, das Schiff rollte ein wenig, während es weiterstampfte, und es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie es zugeht, wenn Vertreter aller Staaten zusammenfinden, um sich nicht zu einigen. Wenn in einem Reagenzglas gezüchtete Mikroben sich zu zahlreich vermehren, sterben sie alle, hatte zuvor der Biologe aus Mexiko erklärt – es stellte sich somit die Frage, ob wir intelligenter als Mikroben sind.

Und der deutsche Geologe hatte mit der epochalen Souveränität seiner Disziplin darauf hingewiesen, dass es Zyklen gibt, Zyklen des Lebens und des Sterbens, und da wir Menschen Kinder einer Eiszeit sind, werden wir gewiss irgendwann vor Hitze vergehen. Bevor eine düstere Ernüchterung den Raum beherrschen konnte, meldete sich eine Stimme zu Wort, die den apokalyptischen Tendenzen widersprach: Der Kapitalismus werde es richten, indem er alternative Technologien entwickeln und die notwendigen Adaptionen fördern würde, weil sie sich irgendwann auch rentieren würden. Der Mann hätte auch sagen können, er glaube fest an den Weihnachtsmann.

Was der Kapitalismus bislang zustande gebracht hat, zeigen die Ruinen auf Deception Island, einer überfluteten Caldera, in die Schiffe hineinschlüpfen können, um inmitten eines aktiven Vulkans zu ankern. Der Vulkan brach 1969 das letzte Mal aus, weswegen die einstige Walfangstation zum Teil unter dem erstarrten Lavastrom begraben liegt. Als die ersten Menschen hier landeten, färbte sich das Wasser in der Bucht bald rot. Es muss vor lauter auf dem Strand ausgenommenen Walen grausig gestunken haben. In der Trankocherei – die gewaltigen verrosteten Fässer ragen heute wie dicke Schornsteine aus dem schwarzen Boden –, wurde in riesigen Kesseln aus dem Speck der Tiere Tran gewonnen. Die Nachfrage stieg, denn es war die Epoche, in der man aus Fischbein Korsettstäbe anfertigte und aus dem Tran Glyzerin, um sich im Ersten Weltkrieg gegenseitig in Stücke zu reißen. Aus Walen Sprengstoff herstellen? Fortschritt ist wahrlich ein relativer Begriff. Oder mit anderen Worten: Es wird das Wesentliche zerstört, um Überflüssiges herzustellen. Dort wo der Mensch auf die unberührte Landschaft des tiefsten Südens traf, plünderte er sie mit ungezähmter Gier. Vor den Walen wurden die Pelzrobben gehäutet, bis die Robben ausgingen, dann wurden die See-Elefanten erschlagen und die Öfen mangels Brennstoff mit Pinguinen geheizt, und als auch die See-Elefanten ausgingen, verkochte man die Pinguine zu Öl.

Die Experten überzeugten mich: Wer den Klimawandel abstreitet, kann auch gleich den Holocaust leugnen

Was unerwähnt blieb

Alles wurde verwertet – dem tatkräftigen Menschen gelingt es stets, der Natur ihren verschwenderisch nichtsnutzigen Umgang mit den eigenen Ressourcen vorzuführen. Darauf zu vertrauen, dass unsere kapitalistische Zivilisation Einsicht zeigt und die Zerstörung der Natur zukünftig unterbindet, widerspricht der historischen Erfahrung (und auch der BP-Gegenwart).

Die grundsätzliche Hybris unseres Wirtschaftens blieb unerwähnt. Alle lebenden Systeme auf der Welt sind auf dem Rückmarsch, weil wir der Biosphäre kontinuierlich Schaden zuführen. Die Krankheiten des Kapitalismus heißen Verbrauch und Verschwendung. Die einzige Kraft auf der Welt, die mächtig, reich und einflussreich genug ist, diesen Zustand zu verändern, ist die Kraft, die diesen Zustand bedingt. Von allein wird sie dies nicht tun, also muss sie (möglichst bald) überwunden werden. Über diese Notwendigkeit wird auf Kreuzfahrtschiffen natürlich nicht gesprochen.