Bruchstücke von Wut und Enttäuschung

THEATER Maike Plath inszeniert im Heimathafen Neukölln ihr aktuelles Stück über die Rütli-Schule: „Tear down this classroom“. Bevor sie sich für das Theater entschied, unterrichtete sie zehn Jahre lang an einer Hauptschule

Schüler auf der Anklagebank – die Klassenkonferenz ist eine der Schlüsselszenen im Rütli-Stück. Ein kakophones Tribunal, ein beklemmender Anblick

VON ANNA LEHMANN

Die Probe sollte längst begonnen haben, doch seit einer halben Stunde diskutieren zwei der Darsteller im Treppenhaus miteinander. Es geht um eine Sache zwischen ihren Familien. Jedenfalls hängen viele Gefühle dran. Beide gestikulieren erregt, Freunde beschwichtigen. Der Rest der Truppe im „Heimathafen Neukölln“ wartet. Regisseurin Maike Plath lässt sie warten – erst muss das hier geklärt werden.

Es ist einer dieser Nachmittage, an dem die Wirklichkeit in die Bühnenwelt einbricht und alle Zeitpläne umstößt. Ärgerlich, könnte man meinen, aber gleichzeitig ist es Teil des Konzepts. Plaths Theaterstücke sind immer ein Mix aus Realität und Fiktion, die Grenzen sind fließend – wie auch in ihrem aktuellen Stück über die Rütli-Schule: „Tear down this classroom“. Am Freitag wird es im Heimathafen Neukölln uraufgeführt und am Ende geht so ziemlich alles zu Bruch. Das Stück haut einen um.

Plath, die zehn Jahre lang an einer ehemaligen Hauptschule in Berlin-Neukölln unterrichtete und den Schuldienst im vergangenen Jahr quittierte, hat sich mit neun Jugendlichen auf den Weg gemacht, um zu erkunden, was schiefläuft im deutschen Bildungssystem. Viele der Darsteller haben einen sogenannten Migrationshintergrund und sind ehemalige Hauptschüler.

Realer Hintergrund sind die Geschehnisse an der Neuköllner Rütli-Schule im Jahre 2006. Damals schrieben überforderte Lehrer einen Brief an die Schulverwaltung und beklagten: „Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können.“ Der Brief wurde öffentlich, das Fernsehen sendete Bilder vermummter türkischer Kids mit Messern in der Hand in deutsche Wohnzimmer. Hauptschüler wurden zu Gangstern, die Rütli-Schule zum Symbol der gescheiterten Hauptschule.

Keiner der Darsteller im aktuellen Rütli-Stück war Schüler der Schule. Im Jahr des Brandbriefs besuchten sie Grundschulen oder waren gerade auf die Oberschule gewechselt. Die meisten von ihnen auf eine Hauptschule.

Wie haben sie die Schulzeit erlebt?

Tahsin Karakas, 20 Jahre alt, überlegt und zuckt schließlich mit den breiten Schultern. „Ich war nicht gut in der Schule.“ Er prügelte sich mit Mitschülern, zerstörte Sachen und griff einmal einen Lehrer an. „Ich bereue das“, sagt er und nickt ernst.

Mehrmals musste er sich in sogenannten Klassenkonferenzen vor der gesamten Lehrerschaft verantworten. „Man sitzt als Einziger da. Keiner, der einen verteidigt“, sagt Tahsin.

Die Klassenkonferenzen seien die schlimmste Erinnerung seiner Schulzeit, das schönste waren die Klassenfahrten, erzählt ein anderer Darsteller, Walid Al-Atiyat, 18 Jahre. Auch er besuchte eine Neuköllner Hauptschule und musste mehrmals vor dem Lehrerkollegium Abbitte leisten. Einmal weil er einen Lehrer beschimpft hatte, erzählt Walid. „Der hat gesagt, ich bin dumm.“

Schüler auf der Anklagebank – die Klassenkonferenz ist eine der Schlüsselszenen im Rütli-Stück. Ein kakophones Tribunal, ein beklemmender Anblick, und man spürt: die jungen Darsteller sind sehr nah dran und machen deutlich, was es heißt ausgeliefert zu sein und abgestempelt zu werden.

Tahsin schlüpft in die Rolle des Lehrers, drohend und einschüchternd. Er würde sich wünschen, dass die Lehrer in einer besseren Schule mehr auf die Schüler zugingen, sich stärker für sie interessieren, sagt er später. „Warum ist jemand aggressiv? Dafür gibt’s ja Gründe.“ Seine Mutter hat ihn und die beiden Brüder mit einem Job als Putzfrau allein aufgezogen, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt.

Das Rütli-Stück erzählt jedoch keine simplen Opfer-Geschichten. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Tahsin macht heute eine Ausbildung zum Pfleger und gehört zu den Besten seiner Klasse. Walid hat seine Ausbildung zum Bäcker abgebrochen und widmet sich ganz der Schauspielerei.

Auf den Bruchstücken von Wut und Enttäuschung errichten sie und die anderen Jugendlichen im Heimathafen Neukölln einen Turm der Hoffnungen. Vielleicht ist es auch das Fundament für eine bessere Schule. Lehrer und alle, die mit Schule zu tun haben, sollten sich „Tear down this classroom“ aussetzen.

■ Premiere am 22. Mai, weitere Vorstellungen: 23./24. Mai, 27.–29. Mai, jeweils 19.30 Uhr