Mathematik als Frontbeladung

Die neue Folge des Pisaromans zerstört die letzten Illusionen über guten Unterricht. Ausgerechnet in dem Fach, das seit der Mathematikstudie Ende der 90er die meisten didaktischen Reformen erfuhr, machen Lehrer immer noch Dienst nach Vorschrift: Kenn ich nicht, kann ich nicht, ist mir zu aufwendig

VON CHRISTIAN FÜLLER

Hans-Peter Meidinger ist gewissermaßen der oberste Studienrat der Nation. Er ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes und weiß als solcher immer Bescheid, wenn es um Schule geht. Egal, ob in Berlin die Rütlischule kollabiert, der Bundespräsident eine Rede hält oder ein Exschüler mit Bomben um den Bauch in seine Realschule marschiert – Hans-Peter Meidinger kennt die Lösung. „Sofortige Indizierung“, sprich das Verbot von Ego-Shooter-Games für Jugendliche, hieß sein Diktum gestern nach dem Beinahe-Amoklauf in einer Emsdettener Schule.

Als vergangene Woche die neueste Pisastudie vorgestellt wurde, meldete sich der Gymnasiallehrer als einer der Ersten zu Wort. Alle erwarteten klare Kante von dem Deggendorfer Studiendirektor – allein: Meidingers Rede war nicht Jaja und Neinnein, sondern mäandernde Ratlosigkeit. Ist das ein Wunder? Schließlich waren – wie berichtet – selbst die politisch Verantwortlichen über die Pisafolgestudie 2003 konsterniert? Darin hatten 80 Prozent der Lehrer zu Protokoll gegeben, noch nie etwas von partizipativen Lehrformen nach Freudenthal gehört zu haben, der stets die reale Welt in den Mathematikunterricht holen wollte.

Der Amtschef im bayerischen Schulministerium, Josef Erhard, der heimliche König der Kultusminister, war irritiert. Er mochte es nicht glauben, nach Jahren intensiver Diskussion über schülernahen Matheunterricht „von so vielen Lehrern hören zu müssen, dass sie den Begriff gar nicht kennen“. Sein Kollege aus Schleswig-Holstein, Wolfgang Meyer-Heesemann (SPD), nannte es „nicht schmeichelhaft, dass so vielen Lehrern ihr zentrales Professionswissen unbekannt ist“.

Der eigentlich Getroffene war freilich Hans-Peter Meidinger. Denn die neueste Folge des Pisaromans hat zwei Besonderheiten: Erstens misst sie erstmals an ein- und derselben untersuchten Gruppe den Fortschritt der Kompetenzen. Die Pisaforscher hatten kurzerhand 2003 befragte Schüler ein Jahr später nochmals getestet. Zweitens hatte man alle Sitzenbleiber, Sonder- und Hauptschüler der Einfachheit halber herausgelassen. „Die Studie ist begrenzt auf eine relativ exklusive Schülerschaft“, sagte der Leiter der Studie, Manfred Prenzel vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften. dazu.

Was Prenzel so verschämt vortrug, bedeutete aber zugleich: Diese Studie schaut schwerpunktmäßig in Gymnasien nach dem Rechten – und da ist es durchaus verständlich, dass Hans-Peter Meidinger hinterher darum bat, „keine voreiligen Schlüsse zu ziehen“. Denn was die zu weit über 40 Prozent mit seinen Gymnasiasten besetzte Gruppe ablieferte, war kein Ruhmesblatt. 40 Prozent von ihnen erzielte keine Fortschritte oder gar Rückschritte in Mathe, 60 Prozent blieben in den Naturwissenschaften in ihren Kompetenzen stehen oder sackten gar ab.

Warum ist dies der Fall? Sofort waren haufenweise Ausreden parat. Diverse Pädagogen verwiesen auf die Pubertät, die das Lernen in den untersuchten 10. Klassen ad absurdum führe. Der Bayer Josef Erhard erklärte, wieso in Mathe Verbesserungen ohnehin nicht zu erwarten gewesen wären. Denn die so genannten Sinus-Projekte, sagte Erhard, würden „ja erst seit 2003 in der Breite auf vielen Schulen ausgerollt“.

Sinus, das war die didaktische Feuerwehr namens „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“, die man sofort ausrücken ließ, als Deutschland bei der Mathestudie Timss 1997 so schlecht abgeschnitten hatte. Wenn seitdem jemand leuchtende Augen über modernen, partizipativen Mathe-Unterricht bekam, dann bei Sinus. Deren Projekte revolutionierten ab 1998 geradezu das Verhältnis von Schülern und Lehrern – in 180 Modellschulen. 2003 kamen 700 Sinusschulen hinzu, 2005 weitere 1.800.

Erhard hatte also Recht – Sinus ist gut, kann aber Mathe noch nicht verbessert haben. Nur fragte man sich, warum Erhard und seine vielen Kultusminister vor gut einem Jahr noch ganz anders geredet hatten. Damals waren die Verbesserungen, die es zwischen Pisa 2000 und 2003 gegeben hatte, auf eine einzige Ursache zurückgeführt worden: Sinus! Anders gesagt: Josef Erhard gestand vergangenen Freitag wortreich, dass die Kultusminister die Öffentlichkeit vor einem Jahr hinters Licht geführt hatten.

Freilich ist das Schnee von gestern. Keinesfalls können heute bereits alle Mathelehrer die neuesten Unterrichtsformen in Mathe anwenden. Nur dass eine erdrückende Mehrheit der Pauker noch nicht einmal davon gehört haben will, ist nicht nur für ihren Berufsstand eine mittlere Katastrophe. Mag sein, dass Lehrer eine extrem fortbildungsresistente Klientel sind – aber haben die Kultusminister denn keine Möglichkeiten, ihren beamteten Pädagogen nahezubringen, was gerade Sache ist?

Die wichtigste Kennziffer der neuen Pisastudie betrifft ebenfalls den Unterricht. 84 Prozent der LehrerInnen haben in der neuen Befragung angegeben, dass sie individuelle Arbeitspläne in ihrer Unterrichtsführung nie anwenden. Diese Zahl ist, wenn man so will, die Bankrotterklärung aller bisherigen Bemühungen für eine bessere Schule nach Pisa.

Erinnern wir uns: Individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers. Das ist der einzige über alle Lager hinweg zu findende Konsens, den man heute, im Jahr fünf nach der ersten Pisastudie, findet. Dazu gehört, dass jedes Kind einen eigenen Förderplan bekommt und auch eigene Hausaufgaben. In ganz vielen Grundschulen ist das heute Standard, sämtliche Bundesländer haben dies zum obersten Lehrprinzip erhoben. Aber nur einer von hundert Lehrern aus 10. Klassen, die bereits einmal Pisa hinter sich gebracht haben, wendet dieses Prinzip regelmäßig an.

Das kann nur Hans-Peter Meidinger erklären: „Verbesserungen brauchen Zeit.“ Und: „Viele Lehrer haben inzwischen von den ständigen Horrormeldungen die ‚Nase voll‘“.

„Pisa 2003: Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung im Verlauf eines Schuljahres“. Waxmann 2006