Auf der Suche nach Utopia

Der Schrecken des Ersten Weltkriegs als kreative Herausforderung: Aus den Bereichen Malerei, Skulptur, Architektur, Fotografie und Druck wie auch dem Interior- bis zum Modedesign zeigt das MARTa Herford mit „Modernism – Designing a New World“ eine Fülle von Gegenständen für eine bessere Welt

Einige Objekte wirken so zeitlos, als seien sie kaum zehn, gar schon bald 100 Jahre alt

von HARTMUT MÖLLER

Das Ziel war die Einheit aller Künste. Was die Gestalter des frühen 20. Jahrhunderts verband, war der rigorose Bruch mit der Geschichte als Reinigung von Hass, Besitzgier und ökonomischer Ungleichheit und dem daraus resultierenden Krieg. Die Ablehnung des Ornaments, Verwendung der Abstraktion und der Glaube, mit ihrer Kunst die Gesellschaft sozial und politisch zu verändern, einigte die Beteiligten.

Retrospektiv wird heute gern von der „Moderne“ als Stil gesprochen, obwohl die Vielzahl der Ansätze zur Entwicklung einer vollkommen neuen Welt keine klare Definition erlaubt. Die von Christopher Wilk für das Londoner Victoria and Albert Museum kuratierte Ausstellung setzt deshalb bewusst den Begriff „Modernismus“ ein und versteht diesen als Bindeglied der unterschiedlichen Strömungen. In acht Schritten erläutert sie dessen Entwicklung – mit dem Fokus auf Architektur und Design in Europa, Russland und teilweise Nordamerika in den Jahren 1914 bis 1939 – und seine Auswirkungen auf den gesamten Globus. Farbliche Markierungen ermöglichen die Zuordnung der Objekte zur jeweiligen Etappe (da sich gelegentlich zwei Abschnitte in einem Raum befinden). Vom Museum gestellte Klapphocker erlauben ein Verweilen vor den Modellen, Fotos, Filmen, Gemälden, Zeichnungen und Skizzen berühmter Meister und erleichtern das Lesen der recht niedrig angebrachten Erläuterungstexte.

Eingangs begibt sich der Besucher „auf die suche nach utopia“. Erich Mendelsohns oder Bruno Tauts spirituelle Utopien treffen auf rationale Denkmuster eines Le Corbusiers oder Vertreter der De-Stijl-Bewegung. Kommunistische Entwürfe von fliegenden Städten, Vladimir Tatlins Monument der dritten Internationale und dionysische Konzepte der italienischen Futuristen befinden sich neben sozialistischen Wunschvorstellungen Walter Gropius’ und Adolf Meyers. „die maschine“ galt als führendes Mittel zur Verwirklichung der Utopien nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch wegen ihrer Nützlichkeit als schön. Filmausschnitte aus Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ oder Fritz Langs „Metropolis“ zeugen von Massenfertigung und „Fordismus“. Sogar handgefertigten Produkten wurde durch Materialwahl und Form angelastet, mechanisch gefertigt worden zu sein. Da Kleider Leute machen, musste für den Arbeiter an der Maschine zeitgemäße Garderobe entworfen werden, die aus heutiger Sicht doch etwas merkwürdig anmutet. Das dritte Kapitel „modernismus und bühne“ untersucht Choreografien von Körpern im Raum. Bühnenbilder von Wassily Kandinsky, Kostüme von Oskar Schlemmer oder das mobile Podium von Lyubov Popova dienten der Darstellung von Bewegungsabläufen. Dem „aufbau von utopia“ verpflichtet, entstanden Hochschulen wie das Bauhaus, Le Corbusier entwickelte seine fünf Punkte einer neuen Architektur und Margarete Schütte-Lihotsky präsentierte die Frankfurter Küche als erste in Massen hergestellte Einbauküche. Ausstellungen über das „neue Bauen“, Marcel Breuers Stahlrohrmöbel und Siedlungsanlagen von Karl Ehn und Ernst May folgten. Der fünfte Abschnitt widmet sich „dem gesunden körper“. Lichtdurchflutete, luftige Räume boten bekömmliche Lebensverhältnisse, der Körperkult gipfelte in sportlichen Massenveranstaltungen, wie sie in Leni Riefenstahls „Olympia“ dokumentiert sind. Schon damals machten Scharlatane glauben, man könne seinen Körper durch elektro-medizinische Hochfrequenzgeräte, aufrechten Schlaf oder Hüftformer gleichsam trainieren und heilen. In den Dreißigerjahren wurden „modernismus und natur“ verstärkt in Einklang gebracht. Inspiriert von Knochen und Knospen entwickelte sich die Architektur und das Inventar zusehends amorph.

Alvar Aalto ersetzte in seinen Möbelentwürfen das Stahlrohr durch kurvenreiches Sperrholz; Back- und Natursteine verdrängten die kühlen Stahl- und Glaskonstruktionen. Den unterschiedlichen Umgang mit dem Modernismus verdeutlichen die „nationalen modernismen“. Während man in Deutschland zwar den technischen Fortschritt und massentaugliche Produkte begrüßte, war der Modernismus in seiner Gesamtheit als „linkslastig“ geächtet. Die Sowjetunion setzte nach dem Wettbewerb für den sowjetischen Palast ausschließlich auf heroische Kunst; in England und Schweden gewann der Modernismus deutlich an Geltung und in Italien galt er sogar als der angemessenste Stil für den faschistischen Staat, so dass Giuseppe Terragni mit dem Bau der Parteizentrale betraut wurde. Der letzte Raum gilt dem „modernismus für die massen“. Seiner sozialen Idee beraubt erhielt er durch Imitationen und Kopien Einzug in die Populärkultur. Designer und Konsumenten gleichermaßen schätzen seinen reduktionistischen Stil bei Verkehrsmitteln, Geschirr, Fotokameras, Werbeplakaten, Typografien und Lifestyle-Magazinen bis hin zum U-Bahn-Plan der Londoner Metro.

Der Einfluss des Modernismus auf unsere Gegenwartskultur ist unverkennbar. Einige der gezeigten Objekte wirken derart zeitlos, als seien sie kaum zehn, geschweige denn bald 100 Jahre alt. Verschiedene Gedankengänge haben sich als äußerst realitätsnah erwiesen, andere scheinen aus heutiger Sicht eher grotesk, doch lässt sich utopisches Denken ohne dieses Moment vorstellen? Leider – wie so oft – frisst die Revolution ihre Kinder. Aus Utopien wurde die Ausschlachtung von Utopia; Wohnviertel, die sich heute als soziale Brennpunkte herauskristallisieren werden den Pionieren der damaligen Zeit angelastet, ebenso wie die Schuld an den hässlichen Rekonstruktionen zerbombter Städte. Überhaupt sehen einige Kritiker sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs darin bestätigt, dass das Maschinenzeitalter zwar den Fortschritt in der Konstruktion, mit dessen Zerstörungsmöglichkeiten aber auch die Wurzel allen Übels in sich barg. Schon deshalb empfiehlt sich ein ausgedehnter Besuch der wunderbaren Ausstellung: um sich noch einmal mit den ursprünglichen Entwürfen und ihren Intentionen bekannt zu machen.

Bis 7. Januar, Katalog (V & A Publications, London) 28 €