Zu Gast bei Wilma und Fred

STEINZEITKÜCHE Berlin hat den Ruf, eine hippe Metropole zu sein. Dazu gehört auch eine gehörige Portion Retro-Chic. Da ist es konsequent, so zu essen wie unsere Ahnen vor über 10.000 Jahren. Neben Fisch und Fleisch gibt’s Nüsse, Samen, Obst, Gemüse, Kräuter und Eier

VON VOLKER ENGELS

Früher war alles besser! Das sagen viele, vor allem wenn’s ums gute Essen geht. Aber warum schon bei Omas Kochkunst Halt machen? Authentischer als seinerzeit bei Familie Feuerstein geht es doch wohl kaum. Das sagen zumindest die Vertreter der Paläo-Küche. Sie haben sich die Nahrung der Steinzeitmenschen zum Vorbild genommen: meiden Zucker, Hülsenfrüchte, Milch- und Getreideprodukte sowie stark verarbeitete pflanzliche Fette. Dafür stehen Fisch, Fleisch, Nüsse und Samen, Obst und Gemüse neben Kräutern, Eiern und gesunden Fetten auf dem Speiseplan. Dieses Essen der Jäger und Sammler soll auch Menschen mit einer Gluten- oder Laktose-Unverträglichkeit zugute kommen. Als Diät genutzt, so die Paläo-Vertreter, helfe diese Küche sogar beim Abnehmen, stabilisiere das Immunsystem und führe unter anderem zu besseren Blutzuckerwerten.

Zurück zur Natur

Die Idee hinter dieser Form der Ernährung: das menschliche Erbgut sei seit der Altsteinzeit im Wesentlichen unverändert. In grauer Vorzeit habe es weder Ackerbau, Viehzucht oder Milchprodukte in nennenswerter Menge gegeben. Menschen mussten jagen oder fischen, ernährten sich vorwiegend von Honig, Beeren oder Nüssen. Zivilisationskrankheiten verstehen einige Vertreter der Paläo-Küche auch als eine Folge falscher Ernährung, etwa mit Kohlenhydraten oder raffiniertem Zucker.

Die Deutsche Gesellschaft für Paläoernährung (DGPE) hat sich zum Ziel gesetzt, Paläo- oder Steinzeiternährung in Deutschland populär zu machen und den Austausch unter ihren Anhängern zu fördern. „Unsere Gelüste auf Nahrung hängen oft mit einem bestimmten Bedarf des Körpers zusammen, unsere Gene signalisieren uns, welche Nahrung wir brauchen“, sagt Sabine Paul, Gründerin des Paläo-Instituts für evolutionäre Studien in Frankfurt. 99,5 Prozent der Zeit hätten Menschen als Jäger und Sammler verbracht, „wir sind weniger als 10.000 Jahre sesshaft“. Das Interesse an dieser Form der Ernährung, hat die promovierte Biologin beobachtet, „nimmt gerade ziemlich Fahrt auf“.

Die Aussage, dass sich das menschliche Erbgut seit Millionen von Jahren nicht verändert hat, hält Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam dagegen für nicht belegt. „Die menschliche Genetik verändert sich laufend“, sagt die promovierte Biologin. Genau diese genetische Wandlungsfähigkeit sei ein Grund dafür, „dass wir uns sehr gut an unterschiedliche Lebensbedingungen anpassen können“. So sei zum Beispiel die Laktoseintoleranz auch in Europa in der Frühzeit die Regel gewesen. „Bedingt durch eine genetische Mutation hat sich dann aber die Fähigkeit durchgesetzt, dass auch Erwachsene Milchprodukte gut vertragen können.“ Milch als gute Energiequelle habe die Wahrscheinlichkeit zu überleben „deutlich erhöht“. Darüber hinaus sei der moderne Mensch in der Regel besser und nährstoffreicher ernährt. „Früher waren tödliche Lebensmittelvergiftungen durch verdorbene Nahrung an der Tagesordnung.“ Dass früher nicht alles besser war, illustriert die Professorin auch an einem plastischen Beispiel: „Vor der Erfindung des Feuers müssten Menschen alles roh essen. Auf diese Idee würde heute auch niemand mehr kommen.“

Die Gäste, die Boris Leite-Poço in seinen beiden Berliner Restaurants Sauvage bewirtet, lassen sich von solchen akademischen Diskussionen wahrscheinlich nicht beeindrucken. „Getreidefrei, glutenfrei und frei von Milchprodukten oder pflanzlichen Ölen“, wirbt der Betreiber für seine Restaurants. Auf der Speisekarte der Neuköllner Filiale findet sich zum Beispiel eine Knochenbrühe vom Wild (die drei Tage gekocht wurde), als Hauptgerichte steht unter anderem eine mediterran gewürzte Beinscheibe vom Wiesenkalb auf der Speisekarte. Auch Freunde der rein pflanzlichen Küche finden auf der Speisekarte etwas: Veganes Curry mit Kokos-Topping oder eine Gazpacho bereichern den aktuellen Menüplan.

Der Küchenchef legt Wert darauf, die Zutaten möglichst regional und saisonal zu verwenden. „Gemüse, Salate, Pilze oder Kräuter kommen aus ökologischem Anbau oder werden frisch gesammelt“, berichtet Leite-Poço, der vor fünf Jahren aus „gesundheitlichen Gründen“ zur Paläo-Küche gekommen ist. Der verwendete Fisch komme aus Wildfang, bei tierischen Produkten achte er darauf, dass sich „die Tiere frei bewegen können und zu 100 Prozent Gras essen können“ – schließlich hätten sich die Beutetiere der Steinzeitmenschen ja auch nicht von genverändertem Soja ernährt.

Die Grundlage der Küche basiert nicht alleine auf tierischen Produkten, sondern auf einer großen Vielfalt von Gemüse, Obst und tierischen Fetten wie Schmalz oder Talg. Reis, Nudeln, klassisches Brot oder andere Getreideprodukte sucht man vergeblich. Dafür kommen unter anderem Nüsse, Samen sowie Nussmehle zum Einsatz. Auch Zucker oder Milchprodukte fehlen auf der Speisekarte. „Menschen mit einer Laktose- oder Glutenunverträglichkeit können bei uns alles essen.“ Denn auch der Käse wird aus Kokosmilch hergestellt. Gewürzt wird mit Kräutern, die Süße steuern wilder Honig, Kokos oder Ahornsirup bei.

Aus Wasserlöchern müssen Besucher des Restaurants ihren Durst nicht löschen. Denn zu trinken gibt es nicht nur verschiedene Weine oder Wasser-Kefir-Drinks. Auch ein kühles Bier zum Steak wird serviert, obwohl einige Zutaten ja eigentlich tabu sind. „Das haben wir als Kompromiss im Angebot: so ganz ohne Bier zum Essen geht es in Deutschland anscheinend nicht.“