„Notfalls mit Polizei“

MODERATION COSIMA SCHMITT

taz: Angesichts der vielen Fälle misshandelter Kinder diskutieren derzeit Politiker wie Experten, ob der Staat stärker in die Familien eingreifen sollte. Wäre das wirklich ein Mittel, Kinder besser vor brutalen oder gleichgültigen Eltern zu schützen?

Klaus Hurrelmann: Ja. Es sollte zum Beispiel Pflicht werden, das Kind regelmäßig zum Arzt zu bringen. Bei den 4-Jährigen etwa nehmen höchstens 70 Prozent an den freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen teil. Die 30 Prozent, die nicht kommen, sind gerade die Kinder aus Problemfamilien. Ihre Eltern müssen wir erreichen.

Christian Pfeiffer: Ich sehe das anders. Man sollte so etwas nicht mit Androhungen von Strafen verbinden. Mutterliebe lässt sich nicht erzwingen. Im Gegenteil laufen wir dann Gefahr, dass die Eltern sich bevormundet fühlen und sich gegen jede Hilfe sperren. Wir gehen in Niedersachsen einen anderen Weg. Ab November startet die Stiftung Pro Kind in fünf Städten einen Modellversuch. Ab dem vierten Monat erhalten Schwangere in sozialen Randlagen Besuch von einer Hebamme. Sie macht ihnen Mut, sich auf dieses Kind einzulassen, berät bei Problemen und motiviert die Mutter, ihr Kind regelmäßig zum Arzt zu bringen. In den USA, wo das Programm schon läuft, hatte es einen durchschlagenden Effekt.

Hurrelmann: Ich finde so ein Vorhaben ja wunderbar, Herr Pfeiffer. Nur: Das allein löst unsere Probleme nicht. Auch mit dem besten Programm wird es immer eine Prozentsatz von Eltern geben, die wir nicht erreichen. Die die Tür nicht öffnen, wenn die Hebamme klingelt, die sich gegen jede Hilfe wehren. Diese Eltern erreichen wir nur durch Zwang. So wie wir die Schulpflicht eingeführt haben, brauchen wir eine Untersuchungspflicht für Babys und Kleinkinder. Und wir müssen uns Druckmittel überlegen, das auch durchzusetzen. Ich finde es richtig, nur den Eltern das volle Kindergeld zu zahlen, die ihre Kinder zu den Vorsorgeuntersuchungen bringen.

Pfeiffer: Aber Hartz-IV-Empfänger bekommen das doch gar nicht, weil es angerechnet wird. Außerdem ist dieser Weg verfassungsrechtlich sehr umstritten.

Hurrelmann: Dann kürzen wir bei diesen Familien eben andere Gelder. Ich bin ja auch dafür, erst mal alle Register zu ziehen, um Menschen im Guten auf ihre Elternverantwortung einzustimmen. Nur: Was tut man mit den Eltern, die wissen, dass sie etwas zu verbergen haben? Die niemanden in die Wohnung lassen, weil dort ein halbverhungertes Kind liegt? Wir müssen von uns aus in solche Familien hineingehen. Wenn keiner öffnet, müssen wir wiederkommen – notfalls mit der Polizei. Hilfreich wäre auch, wenn Kindergärten zu Familienzentren werden, in denen auch Erziehungsberatung angeboten wird. Verpflichtend sollte die Teilnahme an fünf Elternabenden sein, bei denen die Kindergärtnerinnen dabei sind. So entsteht eine Erziehungspartnerschaft.

In Finnland wäre diese Diskussion über mehr staatlichen Zwang obsolet – weil fast alle Mütter an freiwilligen Programmen teilnehmen. Warum misstrauen deutsche Eltern der Hilfe vom Staat?

Hurrelmann: Solche Angebote allein auf Freiwilligkeit basieren zu lassen, klappt in Deutschland nicht. Hier gibt es ein starkes Misstrauen gegenüber staatlichen Angeboten. Sie werden leicht mit Überwachung und Obrigkeitsstaat assoziiert. Auch überdauert bei uns das Denken, ein Kind allein als Privatsache zu betrachten. In unseren Köpfen dauert dieses Denken fort: dass Mutterliebe quasi ein Automatismus ist. Dass der Staat sich nicht einmischen sollte. Wir aber müssen deutlich machen: Ein Kind zu erziehen ist keine Privatsache.

Pfeiffer: Und dabei ist die Ganztagsschule ist das A und O. Alle europäischen Länder, die Ganztagsschulsysteme haben, haben geringere Raten misshandelter Kinder. Wir haben uns zum Beispiel gewundert, als wir 1992 Ost und West verglichen. In Ostdeutschland wurden viel seltener Kinder misshandelt. Die Erklärung ist einfach: Die hatten dort Ganztagsbetreuung. Kinder, die nicht im Haus sind, kann man auch nicht schlagen.

Hurrelmann: Das ist doch wieder ein Beleg dafür, wie wichtig staatlicher Zwang ist. Ich bin ja auch ein Anhänger der Ganztagsschule, aber wir müssen das realistisch sehen: Sie hilft nur, wenn sie verpflichtend ist und nicht wie heute freiwillig und mit Kosten für das Elternhaus verbunden. Noch schicken gerade Risikofamilien ihre Kinder nicht in die Nachmittagsangebote.

Bei aller derzeitigen Begeisterung für diese vielen neuen Konzepte – werden sie nicht, sobald das Medieninteresse schwindet, in Vergessenheit geraten, weil niemand für ihre Finanzierung aufkommen möchte?

Hurrelmann: Die Gefahr besteht. Auch hier besteht das erwähnte Denkproblem: Weil Kinder als Privatsache gelten, ist die Öffentlichkeit nicht bereit, zusätzliches Geld auszugeben.

Pfeiffer: Und das ist extrem kurzsichtig. Amerikanische Forscher haben herausgefunden: Für jeden Euro, den der Staat in die Betreuung von Problemfamilien steckt, spart er über 20 Jahre gesehen vier Euro. Denn nichtbetreute Kinder werden öfter krank und kriminell, landen häufiger in Sonderschulen. Deshalb ist es wichtig, wenigstens den am meisten gefährdeten Familien beizustehen.

Dafür aber müssen die Experten wissen, wer genau diese Risikofamilien sind. Lassen sie sich überhaupt anhand fixer Daten ausmachen?

Pfeiffer: Ein paar Vorurteile konnten wir mittlerweile entkräften: Stadtkinder sind nicht gefährdeter als Landkinder. Ostdeutsche nicht mehr als Westdeutsche. Wichtig ist die soziale Lage im Elternhaus. 21 Prozent der Hauptschülern mit arbeitslosen Eltern werden geschlagen, bei Gymnasiasten aus finanziell gesichertem Elternhaus sind es 4 Prozent. Auch Migrantenkinder sind viel gefährdeter.

Ist das nicht eher ein soziales Problem – weil Migranten überdurchschnittlich oft zu den finanziell schlecht gestellten Familien gehören?

Pfeiffer: Nach unseren Daten ist das nicht ausschließlich ein soziales Problem, sondern auch ein kulturelles.

Hurrelmann: So pauschal kann ich nicht bejahen, dass ein Migrationshintergrund an sich schon ein Risikofaktor ist. Italienische Migranten etwa sind auch oft arm – ohne dass dort besonders viele Misshandlungen feststellbar wäre. Es kommt eher darauf an, ob Gewalt als Erziehungsmittel verpönt oder akzeptiert ist.

Pfeiffer: Es gibt in der Tat einen klaren Zusammenhang zu gewaltdominierter Männlichkeitskultur. Ist der Gedanke akzeptiert, dass der Vater das Oberhaupt ist, dem Frau und Kinder gehorchen müssen, steigt auch das Gewaltrisiko. Ich weiß, dass das die Political Correctness nicht gern hört, aber: Bei Familien aus Russland, der Türkei oder arabischen Ländern haben wir viel höhere Misshandlungsraten.

Hurrelmann: Wir sollten aber nicht so tun, als wäre dieses Denken unserer Kultur so ganz fremd. Bis vor kurzem galt es bis in die gebildete Mittelschicht hinein als Standard. Meine Eltern etwa, die sich sonst wirklich viel Mühe gegeben haben, waren selbstverständlich der Auffassung, dass Kinder gezüchtigt werden sollten. Und das durfte nur der Vater tun. Als Junge musste ich bis zum Abend warten, dann erstattete meine Mutter Bericht – und danach hat mich mein Vater auf den nackten Po geschlagen. Solche Muster wirken nach. Insofern überrascht es nicht, dass die Arbeitslosigkeit des Vaters ein ganz hoher Risikofaktor für das Kind ist. Viele Männer können nicht damit umgehen, wenn sie ihrer traditionellen Rolle als Ernährer und Regelsetzer beraubt werden.

Nach Ihren bisherigen Schilderungen ist es vor allem das sozial benachteiligte Milieu, in dem sich Misshandlungen häufen. Geht die Mittelschicht wirklich liebevoller mit den Kindern um?

Pfeiffer: Es ist jedenfalls ein Irrtum, zu glauben, dass Mittelschichtseltern – die seltener zuschlagen – ihr Kinder stattdessen psychisch terrorisieren.

Hurrelmann: Natürlich gibt es Mittelschichtseltern, die keine Liebe für ihre Kinder empfinden. Aber das ist ein Randproblem. Und dass Eltern nicht losprügeln und dafür psychisch demütigen, kommt höchst selten vor. Meist tritt beides zusammen auf.

Brauchen wir insgesamt gesehen eine stärkere Betonung der Kinderrechte?

Pfeiffer: Ja. Ich fände es richtig, grundlegende Kinderrechte in der Verfassung zu verankern.

Hurrelmann: Wir müssen anerkennen, dass die Familie auch ein Ort des Grauens sein kann. Gesetzestexte sind wichtig. Entscheidender aber ist ein gesellschaftliches Umdenken.