Befreiung durch Teilhabe

THEORIEN Was ist Kunst, wie kann man über sie sprechen und wie über sie urteilen? Und gibt es eine Politik der Kunst? Juliane Rebentischs Einführung in die „Theorien der Gegenwartskunst“ führt durch 50 Jahre Kunstgeschichte

Im Zentrum des neuen Redens über Kunst steht die Erfahrung, die Betrachter mit Kunst machen können

VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst. Unter der Überschrift „Schafft die Kunst ab!“ ging auf den Seiten dieser Zeitung unlängst Georg Seeßlen wortreich der Hut hoch (taz vom 11. 12. 13). Die Kunst, ach, stärker im Würgegriff des Kapitals denn je. Eine Rede über die emanzipatorische Kraft, die Kunst haben kann, war es doch. Wie es um diese Kraft steht, wenn man sich um Vermarktung weniger schert, darüber gibt der Band „Theorien der Gegenwartskunst“ Auskunft, erschienen in der verdienstvollen Reihe von Einführungen des Junius Verlags. Mit Aplomb und wirklich nicht auf Einsteigerniveau rekapituliert seine Autorin Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, ästhetische Debatten vor dem Hintergrund der letzten 50 Jahre Kunstgeschichte.

Einen Überblick über heute widerstreitende Theorien gibt Rebentisch nicht. Stattdessen macht sie Schritt für Schritt nachvollziehbar, welche theoretischen Einsätze im Wechselspiel mit bestimmten Entwicklungen in der Kunst über die Jahrzehnte dazu geführt haben, dass der ganze, inzwischen endlos vielfältige, sämtliche Gattungen sprengende, oft intermediale Spaß nicht mehr moderne und auch nicht mehr postmoderne Kunst, sondern Gegenwartskunst genannt wird. Die sie allerdings als „kritische Selbstüberschreitung der Moderne“ ansieht.Im Durchgang durch unter anderem

Theodor W. Adorno und Jean-François Lyotard, Umberto Ecos „Das offene Kunstwerk“, Andreas Huyssen, durch Readymade, Konzeptkunst, postkoloniale Kunst und Land Art entsteht vorm Auge des Lesers das theoretische Konzept, das sich ihrer Meinung nach inzwischen als perfekter Partner der Gegenwartskunst erwiesen hat, weil es seine Anliegen am besten versteht.

Zu verstehen gelte schließlich neben der Zurückweisung des Werkcharakters, der Überschreitung der Gattungen und der Öffnung der Kunst hin zur Nicht-Kunst nicht zuletzt die Befreiung vom Wahrheitsanspruch, durch die ästhetische Theorien früherer Tage die Kunst in den Dienst der Philosophie gestellt hätten. Der universelle Anspruch der Kunst, auch wenn er im Text noch ein paar Mal nach Luft schnappen darf: untergegangen im Hagel der Vorwürfe von Eurozentrismuskritikern. Auf dem Gebiet des Feminismus, zu dem sie über die Jahre einige Schwerpunkthefte der „Texte zur Kunst“ mitverantwortete, bleibt Rebentisch diesmal übrigens recht wortkarg.

Seit also derartige Vorentscheidungen der ästhetischen Theorie zurückgewiesen würden, entscheide sich, was Kunst ist, stärker im Verhältnis von Kunst und Betrachtenden. Und zwar zwingend, denn: „Während Teilhabe an der Kunst aus der Perspektive der Wahrheitsästhetik bedeutet, dass der Rezipient durch die Versenkung ins Werk eine empirische Subjektivität überwindet, wird er in seiner Erfahrung bedeutender Stränge der Gegenwartskunst immer wieder an seine empirische Situiertheit verwiesen.“

Hier hat also die Rezeptionsästhetik erneut ihren Auftritt, herausgelockt vor allem durch die starken performativen Strömungen der jüngeren Kunstproduktion. Die Bühne dieses Einführungstextes betritt sie als „erfahrungstheoretische Wende“: Im Zentrum des neuen Redens über Kunst, das Rebentisch hier mit kaum versteckter Sympathie vorstellt, steht die Erfahrung, die Betrachter mit Kunst machen können.

Wie dann, außer dass man die vielen unterschiedlichen Erfahrungen beschreibt, über Kunst geredet werden kann, ist an der Rezeptionsästhetik oft kritisiert worden. Darüber hinaus klingt „Erfahrung“ stark nach Unmittelbarkeit und will so gar nicht passen zu der exklusiven und voraussetzungsreichen Veranstaltung, die Kunst ist. Kann jeder sie machen?

Die Sache ist komplizierter und wird von Rebentisch auch mit großem Aufgebot an Dialektik dargestellt. Es bleibt aber der Verdacht, dass hier in der Theorie eine Demokratisierung der Begegnung mit Kunst bloß hingetupft wird. Vielleicht ist es das, was übrig geblieben ist vom Popularisierungsprojekt der Postmoderne.

So ist dann auch ein zentrales Kapitel im Buch der Frage gewidmet, wie Partizipation in und durch Kunst näher bestimmt werden kann. Emanzipation, soviel wird deutlich, nennt heute keiner in der ästhetischen Theorie mehr so. Die Kunst befreit sich, wenn, dann von Vorgaben und Konventionen. Und diejenigen, die es mit Kunst zu tun bekommen, befreien sich durch Teilhabe. Der Rest muss offen bleiben.

Juliane Rebentisch: „Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung“. Junius Verlag, Hamburg 2013, 256 Seiten, 15,90 Euro