Europäische Neutronenquelle: "Falsche Prioritäten"

Für rund 1,5 Milliarden Euro wird in Schweden eine Spallationsanlage zur Erzeugung von Neutronen errichtet. Für einige Forscher ist das zu viel Geld.

STOCKHOLM taz | Spallations-Neutronenquelle: Klingt irgendwie nach Raumschiff Enterprise. Viele deutsche WissenschaftlerInnen hätten diese Forschungsanlage jedoch gern in Jülich gehabt. Doch sie wird nun im südschwedischen Lund gebaut.

Die Anlage funktioniert wie ein Supermikroskop: Mit Hilfe der dort erzeugten intensiven Neutronenstrahlung können Materialforscher, Biochemiker oder Archäologen den atomaren Aufbau von Materieproben untersuchen oder Materialien mit bestimmten Eigenschaften ausstatten. Zum Beispiel um den Alterungsprozess von Batterien zu erkunden, wirkungsvollere Medikamente zu entwickeln oder die Speicherkapazität von elektronischen Bauteilen zu verbessern.

Die Neutronen, die in diesem Prozess das erforderliche Wissen über Lage, Dynamik und Funktion von Atomen und Molekülen offenbaren sollen, müssen erst gewonnen werden. Das kann in Forschungsreaktoren durch Kernspaltung geschehen, aber eben auch durch Spallationsquellen, in denen Atomkerne zertrümmert werden. Dabei werden Neutronen freigesetzt.

Es gibt in Europa bereits verschiedene Spallationsquellen, beispielsweise SINQ in der Schweiz und Isis in Großbritannien. Trotzdem meint die Wissenschafts- und Politiklobby, die sich nun mit der Errichtung der "Europäischen Spallations-Neutronenquelle" (ESS) durchgesetzt hat, dass dieser Neubau eine Voraussetzung dafür ist, dass Europa auch in Zukunft bei der Neutronenforschung die Nase vorn haben kann.

In einem jahrlangen Standortwettbewerb war Deutschland schon 2003 ausgeschieden, nachdem Berlin auf Anraten des Wissenschaftsrats der Förderungswürdigkeit des Projekts eine eher niedrige Priorität eingeräumt hatte. Chancen, die Anlage auf eigenem Boden bauen zu können, hatte praktisch nur das Land, das die Hälfte der rund 1,5 Milliarden Euro Baukosten übernehmen wollte. Schweden bekam jetzt den Zuschlag, nachdem neben Deutschland und Frankreich auch die Mehrheit der kleineren EU-Staaten diese Kandidatur unterstützt hatte.

Doch durchgehende Begeisterung gibt es in der schwedischen Forschungsszene nicht. Die Königliche Wissenschaftsakademie spricht von einem politischen Projekt, für das letztendlich kein wirklicher Bedarf bestehe, zumal London als Alternative zu der ESS einen Ausbau seiner Isis-Anlage angeboten habe.

"Falsche Prioritäten" wurden gesetzt, darunter würden andere Wissenschaftsbereiche leiden, meint Bo Sundqvist, Ionenphysiker und Vorsitzender der Wissenschaftsakademie: "Das politische Prestige Schwedens war ausschlaggebend." Eine Einschätzung, die durch die Argumente, mit denen Forschungsminister Lars Leijonborg die Investition verteidigt, nicht unbedingt widerlegt wird: Schweden werde sich auf der forschungspolitischen Landkarte platzieren und der Bau bedeute viel für das Vertrauen des Landes in seine Zukunft, meinte der Minister.

Auch Umweltschützer sind gegen die Anlage. Sie befürchten, dass Quecksilber, Blei oder andere giftige Stoffe, mit denen in der ESS gearbeitet wird, in die Umwelt gelangen. Auch radioaktiver Abfall fällt an. Die 1,5 Milliarden Euro wären ihrer Ansicht nach in anderen Forschungsbereichen sinnvoller angelegt.

Mit dem Bau der ESS soll 2012 begonnen werden. Spätestens 2023 soll die Anlage in Betrieb genommen werden. 400 bis 500 WisenschaftlerInnen und TechnikerInnen werden dann dort in Lund arbeiten. Die rund 100 Millionen Euro an jährlichen Betriebskosten teilen sich alle beteiligten EU-Staaten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.