In einem Blog über die verlorene Zeit

Die „Recherche“ lesend sich selbst lesen: Der Schriftsteller Jochen Schmidt arbeitet täglich 20 Seiten Marcel Proust durch und schreibt darüber ein Internet-Tagebuch

Die „Recherche“ ist eine Folie, auf der sich alles abbilden lässt, was so in einem drin ist – und wie es geworden ist

Bloggen ist prima. Man vergesellschaftet einen größeren Teil des eigenen Schreibens und Denkens, entprivatisiert einen Teil des einsamen Nur-für-sich-Schreibens, diszipliniert sich dabei und tritt – direkter, als es in einer materiellen, fertigen Veröffentlichung möglich wäre – in einen Dialog mit dem Leser. Weil das Bloggen meist nicht bezahlt wird, ist es außerdem ein schöner Akt der Verschwendung.

Die Nachteile der Interenettagebuchschreiberei sind auch evident: Irgendwann verbringt man viel zu viel Zeit am Computer und kommt nicht mehr aus dem Haus. Jochen Schmidt, um dessen Proust-Blog es hier geht, braucht jeden Tag vier Stunden, um Proust zu lesen und darüber zu schreiben.

„Der wahre Grund für mich, Proust zu lesen, ist, dass ich dann vielleicht endlich Becketts Proust-Essay verstehe, an dem ich immer gescheitert bin“, schreibt er anfangs, und dass er auf das Prestige spekuliere, das es einem verschaffe, Proust zu lesen. Zunächst war sein Blog „nur als Motivation und Notizblock geplant, und um sich ein bisschen zur Lektüre mitzuteilen, vielleicht Gleichgesinnte zu finden“, und natürlich bleibt man, „wenn man von Kunstwerken schwärmt, immer unter dem Niveau der Vorlage“. Die pastellfarbenen Bände der Ostausgabe (Rütten & Loening, Berlin 1974) hatten im Bücherschrank seiner Eltern gestanden. „Ich litt lange unter einem grundlegenden Missverständnis, es gab nämlich einen sowjetischen Kinderfilm, in dem jemand die Zeit stiehlt, mit dem Titel: ‚Die verlorene Zeit‘ (…) Jedenfalls dachte ich, das Buch im Bücherschrank meiner Eltern sei das Buch zum Film, und wunderte mich, dass es so lang und gar nicht kindgerecht geschrieben war.“

Es ist sehr schön, jeden Tag in Schmidts Proust-Blog zu schauen, den der 36-jährige Autor einiger Bücher („Müller haut uns raus“, dtv), der auch als Mitglied der Berliner Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ bekannt wurde, am 19. Juli begonnen hat. Jeden Tag liest er 20 Seiten und schreibt vom Gelesenen ausgehend seinen Blog, der teils auch in der Ukraine oder im Oderbruch spielte. Mitte Januar müsste er mit den 3.500 Seiten fertig sein. Zuvor hatte Schmidt schon einige Blogs (fürs Goethe-Institut zur WM oder im „Chronistencatchen“ mit Schriftsteller Falko Henning) geschrieben, die man teils noch auf der Website der „Chaussee der Enthusiasten“ nachlesen kann.

Die Lektüre der „Recherche“ zum Thema des Internettagebuchs eines Schriftstellers zu machen leuchtet sofort ein, denn sie handelt ja von einem Dichter, dem der Mut fehlt, endlich mit seinem Werk zu beginnen, und als er dann endlich beginnt, ist der Roman am Ende, was eine zweite Lektüre notwendig macht. Schreibend bildet die „Recherche“ den roten Faden, der im echten Leben selten erkennbar ist; eine Art Folie, auf der sich alles Mögliche abbilden lässt – alles, was so in einem drin ist und wie es geworden ist, die Abfolge der unterschiedlichen Ichs und die Orte, wo sie stattgefunden haben.

Literaturwissenschaftler mögen Schmidts naiven Ansatz belächeln und es möglicherweise anmaßend finden, Proust ohne Vorkenntnisse so zu lesen, als sei die „Recherche“ gerade eben erschienen; die „Recherche“ als Stichwortgeber zu missbrauchen, die Schriftstellererfahrungen Prousts mit den eigenen zu vergleichen. Außerdem, so mögen arrivierte Proust-Leser hämisch prophezeien, wird Schmidts Blog irgendwann an die Wand fahren, wenn er merkt, dass die Recherche kein linearer Roman ist, sondern spiralförmig gebaut. Mit Proust könnte man den Skeptikern entgegenhalten, dass der Wert eines Buchs gerade darin besteht, dass es vom Leser handelt, der, während er das Buch liest, in sich selbst liest, sich also lesend auch über sich selbst aufklärt, wie man das ja selbst auch macht, wenn man Schmidts Blog quasi als einen Text dritter Ordnung liest und sich dabei an die eigenen Lektüren erinnert; wie das damals war beim ersten Mal auf der sonnenbetrunkenen Terrasse usw.

Es ist zugleich ein Leser- und ein Writers Blog: Auf einen tagebuchartigen Teil folgt das Referieren, Zitieren und sparsame Kommentieren des gelesen Textes. Im Tagebuch geht es um die alltäglichen Erfahrungen des empfindsamen Schriftstellers; um Ost und West, den schönen Titel des Stasiberichts über seine Mutter („Schaffung einer Übersicht zur Person“), um das liebe Fernsehen, widerspenstige Computer, mögliche Gekränktheiten im Umgang mit anderen Menschen, den Marathon, den Schmidt zum ersten Mal seit fünf Jahren nicht lief, falsch aussehende Vorhänge, Treppenhäuser. Unsinnig, alles aufzuzählen, denn ein guter Blog lebt ja vom Übermaß. Während die Spitzengedanken in Romanen und Geschichten lange vorbereitet werden, bevor sie auftauchen, stehen sie hier zuhauf nebeneinander.

Die kommentierenden Passagen über Proust sind im Lauf des Blogs zurückhaltender geworden; vielleicht auch, weil Schmidt „die ganzen Proust-Experten im Nacken spürt“. Es ist aber schön, ihn bei seiner Lektüre zu begleiten. Keine Ahnung, wie das Lesern geht, die Proust nicht kennen. Die kriegen dann die „selbstständig lebensfähigen Sentenzen“ von Proust geschenkt, die der fleißige Blogger am Ende jeder Tageseintragung notiert. Schmidt selber liefert auch ziemlich viele.

DETLEF KUHLBRODT

Jochen Schmidts Proust-Blog ist auf vertr.antville.org/ beheimatet