Wir puzzeln uns einen Vorort-Roman

HYPERTEXT Ein Roman ist ein Konstrukt. Eine Familie auch. Beides wird seziert in Garth Risk Hallbergs schönem „Naturführer der amerikanischen Familie“

Erzählt wird von Erosion in der Welt der Suburbs: Scheidungen schlagen nun im eigenen Vorgarten ein

VON ULRICH RÜDENAUER

Von den profanen Dingen geht manchmal eine Trauer aus, die im Menschen sofort Widerhall findet, aber kaum je einen so starken Ausdruck. Da gibt es in Garth Risk Hallbergs „Naturführer der amerikanischen Familie“ dieses Bild eines gelben Sofas, in Plastikfolie verpackt, entweder noch ungebraucht oder schon seiner eigentlichen Bestimmung übergeben, aber aus Sorge vor Abnutzung mit der durchsichtigen Haut überzogen. Das Sofa macht einen jämmerlichen Eindruck. Das Quietschegelb verscheucht alle Heimeligkeit, die Sterilität der Verpackung alle Anmutung des Unbeschwerten. Das gelbe Sofa in einem weißen Raum könnte zur Möblierung der düstersten Kammer eines Seelenkranken dienen. Man wüsste sofort: Hier will man nicht bleiben, hier will man nicht Platz nehmen.

Das Foto findet sich unter dem Schlagwort „Depression“. Die Bildunterzeile lautet: „Als Weiterbildung einer wiederkäuenden Art namens Melancholie beherrscht heutzutage die Depression das Tierreich. Ihre explosive Wachstumskurve bleibt unerklärt, doch einige Familienbeobachter haben auf eine gleichzeitige sprunghafte Zunahme der Suche nach Sinn hingewiesen.“ Der pseudowissenschaftliche Ton, der Abstrakta in seltene Tierarten verwandelt, hat etwas Suggestives und zugleich Aphorismenhaftes. Aber das ist nicht die einzige Textsorte, die sich bei Hallberg findet. Auf der gegenüberliegenden linken Buchseite wird erzählt, und zwar, ebenfalls unter dem Schlagwort „Depression“, von Instant-Haferbrei und vom heimlich gelauschten Trockensex bei Schwestern im Nebenzimmer. Zum Abschluss finden sich noch Verweise auf die mit dem Thema „Depression“ verwandten Stichwörter „Adoleszenz“ und „Erwachsenenalter“.

Hallbergs „Naturführer“ ist ein eigentümliches Gebilde. Roman, Bilderbuch, Enzyklopädie, Hypertext, Wörterbuch, Satire, Gesellschaftsanalyse, Psychogramm – alles in einem und doch nichts davon in Reinform. Wenn man die verschiedenen Schalen dieses wunderlichen Romans abstreift und zum Kern des Ganzen vordringt, dann stößt man auf eine eigentlich sehr banale, oft erzählte Geschichte. Zwei Familien, die Hungates und die Harrisons, schlagen sich mit ihren Alltagsproblemen herum, mit allen möglichen Übeln der modernen Wohlstandsgesellschaft und den zu allen Zeiten immer wiederkehrenden Liebesnöten, Pubertätssorgen und Verzweiflungen. Das schlimmste Unglück, Frank Harrisons überraschender Tod, scheint zu einer beschleunigten Erosion im vordergründig heilen Gefüge der beschaulichen Suburb-Welt zu führen. Unfälle und Scheidungen, die früher kaum hörbare Detonationen in einer anderswo geführten Schlacht waren, schlagen nun im eigenen Vorgarten ein.

Der 1978 in Louisiana geborene Garth Risk Hallberg seziert diese Geschehnisse; er demontiert die amerikanische Familie zu dem, was jede Familie ist: ein Klischee, das sich bei zunehmendem Ernst der Lage in eine Farce verwandelt. Und Hallberg tut das auf äußerst geschickte Weise. Er zerstückelt nicht nur die Familie selbst, sondern auch seine Erzählung. In kleinen Portionen – geordnet eben unter bestimmten Stichwörtern – bekommen wir sie vorgesetzt und müssen sie uns selbst wieder zusammenfügen.

Das erzeugt den schönen Effekt, sowohl das Konstrukt Familie als auch das Konstrukt Roman als das zu sehen, was sie sind: brüchige, auf Illusionen beruhende Formen. Zudem werden so auch die Lesegewohnheiten aufgebrochen. Man kann irgendwo ansetzen, sich anhand der Stichwortverweise durchs Buch schlängeln, einfach von hinten nach vorn lesen oder sich wie in einem Naturführer oder Wörterbuch die einen interessierenden Schlagwörter und Spezies zu Gemüte führen.

Man kann irgendwo ansetzen, sich anhand der Stichwörter durchs Buch schlängeln oder einfach von hinten nach vorn lesen

Die Referenz- und Assoziationsmaschine, die damit angeworfen ist, wird durch die beigegebenen Fotos ergänzt. Hallberg bat Fotografen, die er in Galerien oder im Internet entdeckt hatte, Bilder zu den einzelnen Stichwörtern beizusteuern. Die Geschichte der Hungates und Harrisons kannten sie indes nicht, was der Gefahr vorgebeugt hat, dass sich Verdopplungen von Gesagtem und Gezeigtem ergeben.

Hallbergs Textbilderbuch erinnert nicht von ungefähr an den vor wenigen Jahren verstorbenen Schriftsteller W. G. Sebald, der in den USA ja einen ungeheuren Kultstatus innehat. Bei Sebald sind Text- und Bildebene sehr genau aufeinander abgestimmt, die Fotografien tragen die Erzählung weiter, und sie wirken wiederum auf den Text und dessen Lesart zurück. So entsteht eine Reflexion, die wie in einem Spiegelkabinett Bild um Bild hin und her wirft, kaleidoskopartig vervielfältigt. Gleichzeitig gibt es bei Sebald oftmals keinen direkten, zumindest keinen direkt erkennbaren Bezug, sondern nur einen, der auf assoziativer Ebene hergestellt werden kann.

Das ist bei Hallberg nicht anders. Wenn er etwa über „Vorsehung“ schreibt und von einem Einbruch berichtet, der einen Mann sekundenschnell in die eigene Vergangenheit verwickelt und ihn mit seinen Vorurteilen konfrontiert, sehen wir auf der gegenüberliegenden Buchseite ein Bild von einem Rasen, aus dem eine quadratische Fläche herausgeschnitten wurde. Das ist ein schönes Beispiel für das Funktionieren dieses Romans. Für den Leser und Betrachter bleibt stets genug Raum, die leere Fläche zu füllen, an anderer Stelle des Buchs nach dem fehlenden Puzzleteil zu suchen. Ob man es immer findet, darauf kommt es gar nicht so sehr an. Hallbergs Naturführer bringt einen zumindest auf die richtige Fährte.

Garth Risk Hallberg: „Ein Naturführer der amerikanischen Familie“. Aus dem Englischen von Matthias Müller. Verlag Liebeskind, München 2010, 144 Seiten, 19,80 Euro