Das System Putin – ein Sündenregister

Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Pressefreiheit

Wladimir Putin ging die Präsidentschaft zielstrebig an. Noch vor Ablauf des ersten Amtsjahres zwang er 2001 den privaten Fernsehsender NTW unter die Meinungshoheit des Kreml. Der Sender galt als Flaggschiff des nichtstaatlichen Journalismus und war Russlands erste private TV-Anstalt. Seiner couragierten Berichterstattung war es zu verdanken, dass die öffentliche Meinung den ersten Tschetschenienkrieg des Kreml 1994 strikt ablehnte. Die Gleichschaltung wurde getarnt als ein „Streit zwischen Wirtschaftssubjekten“. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein System, das in Putins Reich zur Methode reifte. Wann immer der Kreml Konkurrenten und missliebige Unternehmer beiseiteräumen will, greift er auf dieses Mittel zurück. Dessen Vorteil: Der Konflikt lässt sich gegenüber dem Ausland als Rechtsstreit darstellen. Ebenfalls Methode wurde die damals erstmals angewandte Instrumentalisierung des Energiekonzerns Gazprom für diese Zwecke. Der Konzern hatte dem Mehrheitseigner NTWs, Wladimir Gussinski, einen dreistelligen Millionenkredit gewährt, den Gazprom jetzt zurückverlangte. Gussinski wurde mit der Androhung von strafrechtlichen Konsequenzen zur Emigration gezwungen.

Die Gleichschaltung der bereits unter staatlicher Kuratel stehenden TV-Medien war hingegen binnen kurzem vollzogen. Intendanten wurden ausgewechselt und kritische Mitarbeiter entlassen. Inzwischen hat es Moskau auch auf die bislang noch unabhängigen Printmedien abgesehen. Bekanntestes Opfer wurde die Iswestija, die Gazprom-Media aufkaufte. Schon vor der Übernahme erzwang der Kreml den Rücktritt des Chefredakteurs wegen kritischer Berichterstattung über das Geiseldrama von Beslan im Herbst 2004. Im August 2006 erwarb ein dem Kreml und Gazprom nahestehender Unternehmer den Kommersant, die letzte Festung eines anspruchsvollen und um Objektivität bemühten Journalismus.

Kaukasus

Im September 1999, Putin war wenige Wochen als Premierminister im Amt, explodierten in Moskau und Wolgodonsk mehrere Wohnhäuser. 200 Menschen starben. Die Ermittlungsbehörden fanden in den Trümmern der Häuser Säcke mit dem Sprengstoff Hexagen. Wenige Tage später entdeckten aufmerksame Bürger in Rjasan, wie Männer ähnliche Säcke in den Keller ihres Wohnhauses schleppten. Es handelte sich um Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes, die ihr Tun als eine bewusste Übung darstellten, die die Wachsamkeit der Bürger schärfen sollte. Weder die Explosionen noch der Vorfall in Rjasan wurden aufgeklärt. Die Staatsanwaltschaft behauptete zwar, es gebe eine Spur, die nach Tschetschenien führt, legte aber nie ausreichende Beweise vor. Dennoch wurden Verdächtige, Angehörige kaukasischer Minderheiten, zu Gefängnisstrafen verurteilt. Der Anwalt der Inhaftierten, Michail Trepaschkin, stieß bei seinen Nachforschungen indes auf eine Spur, die zum Geheimdienst FSB führte. Trepaschkin unterhielt als ehemaliger Offizier des FSB beste Kontakte dorthin. Vor Beginn des Prozesses gegen die verdächtigten Kaukasier wurde Trepaschkin unter dem Vorwand illegalen Waffenbesitzes festgenommen und zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt. Er sitzt bis heute.

Die Explosionen nahm der Kreml zum Anlass, den zweiten Tschetschenienkrieg vom Zaun zu brechen, mit dem sich Wladimir Putin ins Präsidentenamt und die Herzen der Wähler bombte. Der Kaukasuskrieg kostete mehr als 100.000 Tschetschenen das Leben, und 3.500 russische Soldaten starben bislang. Seit 2003 verfolgt Moskau einen „Normalisierungskurs“ in der Republik. Es setzte Achmed Kadyrow, einen ehemaligen Krieger Allahs und Mufti, als Statthalter ein. 2004 kam er bei einem Attentat ums Leben. Sein Sohn Ramsan Kadyrow übernahm die Nachfolge. Unter seiner Ägide überziehen Todesschwadronen die Republik mit Terror und Schrecken. Im ersten Halbjahr 2006 wurden mehr als 100 Menschen entführt und werden noch vermisst. Insgesamt wurden seit 2002 1.800 Tschetschenen gekidnappt, von 1.000 fehlt noch jede Spur. Der Kaukasuskrieg hat auch die anderen zuvor ruhigen nordkaukasischen Republiken, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Dagestan, in Mitleidenschaft gezogen. Besonders Jugendliche schließen sich den Dschamaaten an, radikalen islamistischen Gemeinden. Das bleibt nicht ohne Folgen für gemäßigte Muslime im Kaukasus, die sich zunehmend einem Generalverdacht ausgesetzt sehen.

Yukos

Michail Chodorkowski galt als Russlands erfolgreichster Oligarch. In wenigen Jahren baute er den Ölkonzern Yukos zu einem Vorbildunternehmen nach westlichen Geschäftsstandards aus und bemühte sich um Transparenz in Unternehmensführung und Finanzgebaren. Wie alle russischen Oligarchen war auch er über zweifelhafte Methoden beim Ausverkauf des Staatseigentums in den 90er-Jahren zu Reichtum gelangt.

Chodorkowski hatte jedoch – das unterschied ihn von der Mehrheit der anderen Oligarchen – eine Vision: die Transformation Russlands in eine offene Gesellschaft. Er unterstützte demokratische Parteien, NGOs und förderte Bildungsprojekte in der Provinz. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er Anspruch auf das Präsidentenamt anmeldete. Die Jagd auf Chodorkowski und das Yukos-Imperium begann im Dezember 2003 und endete im Mai mit der Verurteilung des Oligarchen wegen Steuerhinterziehung und schweren Betrugs. Chodorkowski wurde zu neun Jahren Arbeitslager verurteilt und der Konzern Stück für Stück zerschlagen. Die Filets verleibten sich staatliche Energiekonzerne ein, die von Vertretern des Kreml und der Präsidialverwaltung geleitet werden. Erstmals war von der „Kreml AG“ die Rede, die eine Personalunion aus Politik und Business darstellt. Der Prozess gegen Chodorkowski verletzte alle rechtsstaatlichen Standards. Auch Beobachter des Europarats übten scharfe Kritik am Prozessverlauf. Die Yukos-Affäre zeigte, wie abhängig die Justiz vom Kreml ist und wie käuflich.

Kaltherzigkeit mit Todesfolge

Im August 2000 sank das Atom-U-Boot „Kursk“ in der Barentssee. Tagelang wurde die Havarie verheimlicht, obwohl die Mannschaft noch am Leben war. Hilfe wäre möglich gewesen. Marineführung und Präsident unternahmen indes nichts. Der Kreml reagierte erst, als der öffentliche Druck immer stärker wurde. Moskau bat schließlich westliche Bergungsfirmen um Beistand, der für die 118 Seeleute jedoch zu spät kam. Überlebende Zeugen der Havarie, mutmaßten russische Medien, hätten der Marineführung unbequem werden können. Auf die Frage des US-Talkmasters Larry King, was mit der „Kursk“ geschehen sei, meinte Putin lächelnd: untergegangen.

2002 überfiel ein tschetschenisches Terrorkommando das Musical-Theater Nord-Ost in Moskau. Nicht das Leben der Geiseln stand im Vordergrund. Der Sturm des Theaters war von vornherein beschlossene Sache. Mit Terroristen verhandelt der Kreml nicht mehr. Bei der Befreiungsaktion starben mehr als 130 Menschen. Die meisten kamen durch die Folgen des eingesetzten Giftgases um. Dessen Bestandteile hält Moskau bis heute geheim.

2004 stürmte ein Kommando kaukasischer Terroristen eine Schule in Beslan. Auch hier verhängte der Kreml ein Verbot, mit den Attentätern zu sprechen. Unklar ist, womit sich der Innenminister, Inlandsgeheimdienstchef und Armeespitzen im Krisenstab beschäftigten. Bei der Erstürmung der Schule starben mehr als 330 Menschen, die meisten waren Kinder. Unabhängige Ermittler vermuten, dass der Tod der Menschen wie im Nord-Ost-Theater durch die eigenen Sicherheitskräfte verursacht und bewusst in Kauf genommen wurde. Eine vom Kreml eingesetzte Untersuchungskommission hat auch nach zwei Jahren Arbeit noch kein Abschlussgutachten vorgelegt. Aus den Ermittlungen unabhängiger Experten geht hervor, dass der Einsatz angeordnet wurde, ohne das Schicksal der Geiseln zu berücksichtigen.

Zentralisierung

Auch die staatlichen Strukturen wurden unter der Maxime, die „Vertikale der Macht“ zu stärken, nach vorrevolutionär autokratischen Mustern zurückgebaut, und der Föderalismus wurde zugunsten des Zentralismus preisgegeben. Die Zweite Kammer, der Föderationsrat der Duma, dem einst Gouverneure und Republikspräsidenten angehörten, wurde in einen einflusslosen Honoratiorenclub mit fürstlichen Apanagen verwandelt. Gleichzeitig schaffte der Kreml die Wahlen der Gouverneure in den Provinzen ab und ernennt sie nun selbst. Desgleichen setzte Putin in fünf „Großregionen“ handverlesene Supergouverneure ein, die den Regionalchefs auf die Finger schauen sollen. Faktisch bedeutet dies eine Verdopplung der Korruptionsmöglichkeiten.

Die Duma büßte die Rolle eines Instruments zur Willensbildung ein und wird von der Kremlpartei Vereinigtes Russland beherrscht, die sich mehrheitlich aus Bürokraten und Apparatschiks zusammensetzt. Zentralisierung und Machtvertikale haben das alte russische Übel wiederbelebt: Verantwortungslosigkeit und Untätigkeit aus Angst vor Vorgesetzten. Russland befindet sich in einem rasenden Stillstand.