Die Peitschen-Borchert

Als sie für einen Blog mit der Kanzlerin sprach, dachte sie die ganze Zeit: „Boa, ist das schräg“

VON JOHANNES GERNERT

Sie kennt ein Rezept, mit dem einiges einfacher wird. Es heißt: tief durchatmen. „Wenn alle erst einmal tief durchatmen würden, bevor sie etwas machen, wäre die Welt schon ein Stück besser“, sagt Katharina Borchert. Sie selbst musste oft ziemlich tief durchatmen in den vergangenen Wochen.

Katharina Borchert ist Chefin geworden, Online-Chefin im Zeitungsimperium der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Am 1. August hat sie ihren neuen Job angetreten: Sie plant den gemeinsamen Internetauftritt der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, der Neuen Ruhr Zeitung, der Westfalenpost und der Westfälischen Rundschau. Sie steht auf derselben Stufe wie die Chefredakteure dieser vier Printtitel. Ihre Berufung ist auch eine Botschaft: Der WAZ-Konzern nimmt die Onlinesache jetzt ernst. Er setzt eine 33 Jahre alte Bloggerin in die Führungsetage. Eine Frau aus dem Internet. Eine, die dort seit fünf Jahren ihren Alltag veröffentlicht, die von furzenden Kindern im Zugabteil erzählt und von Beinahe-Beinbrüchen beim Sex mit Stöckelschuhen. Diese Geschichten, die in dem Blog „Lyssas Lounge“ nachzulesen sind, haben sie zu einer Netz-Berühmtheit gemacht.

Ihre Berufung an die Onlinespitze der WAZ hat einen Aufschrei provoziert. Ausgerechnet dort, wo sie herstammt: in der Blogosphäre. Ausverkauf, Verrat, rufen die einen. Die hat doch nichts geleistet, brüllen die anderen. Nichts – außer Bloggen.

Das ist das Schlimme, sagt Katharina Borchert, dass man jahrelang darum kämpft, als Blogger ernst genommen zu werden. Dann tut es endlich jemand, eines der größten deutschen Medienhäuser sogar. Und dann so was. Sie war nicht überrascht: „So war die Szene schon immer. Wer am lautesten schreit, hat den höchsten Unterhaltungswert und zieht die meisten Leser.“ Sie kennt das, es macht ihr nicht mehr viel aus: „Ich renn jetzt nicht heulend zu Mama.“ Aber manchmal ruft sie doch einen Freund an, beschimpft ihn stellvertretend und schreit in den Hörer. Danach kann sie wieder ruhig auf die neuesten Anschuldigungen antworten. „Peitschen-Borchert“ hat sie kürzlich einer genannt. Sie würde die Redakteure mit der Peitsche zum Bloggen zwingen.

Selbstverständlich werde niemand gezwungen, sagt die Online-Chefin. Wer bloggt, muss schließlich Spaß daran haben. Sie baut jetzt eine Redaktion auf –mit bis zu zwanzig Leuten. Die werden das WAZ-Portal betreuen, zurzeit lautet der Arbeitstitel „Westeins“. Es wird dort klassische Nachrichten geben, aber auch Blogs, Podcasts und Videoblogs. Katharina Borchert will Blogger einkaufen, die fürs Schreiben bezahlt werden sollen. Außerdem werden die Nutzer sich äußern können, Themen vorschlagen und sich mit eigenen Profilen präsentieren. Vielleicht sind die ersten Veränderungen im März zu sehen. „Das geht natürlich nicht zackboombang“, sagt Borchert.

Eine sichtbare Neuerung hat sie zügig eingeführt: Das Schlüsselsymbol ist weg. Die Online-Inhalte der WAZ können ohne Registrierung gelesen werden. Zwei Wochen nach Dienstantritt war es so weit. Blogosphärisch betrachtet allerdings eine unendlich lange Zeit: Ein Blogger ändert so etwas unbürokratisch mit ein paar Mausklicks. Sie muss sich an das neue Arbeitstempo gewöhnen, an die neuen Arbeitszeiten.

Bisher hat sie frei gearbeitet. Sie hat Kolumnen geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, für die Welt am Sonntag. Sie hat Vorträge gehalten über das Bloggen. Zwischendurch hat sie sich auf ihr rotes Sofa gesetzt, in ihrer Hamburger Wohnung, und hat Lyssas neueste Alltagsepisoden in ihren Laptop getippt. Jetzt sitzt sie dazu im Schneidersitz auf dem Kiefernholzbett in ihrem alten Kinderzimmer, auf dem Hof ihrer Eltern, in Wattenscheid. Sie hatte bisher keine Zeit, sich eine Wohnung zu suchen. Sie hat auch weniger Zeit zu schreiben. Vor allem gibt es auch nicht mehr so viel, worüber sie schreiben kann. Ihr Alltag besteht jetzt aus einem Übergangsbüro mit graublauer Auslegware und einer langen grauen Schrankwand, aus Gesprächen mit Redakteuren, mit Geschäftsführern, mit Strategieplanern. Wenn sie das alles aufschriebe, würde sie vermutlich nicht nur Leser verlieren, wegen Langeweile, sondern irgendwann auch den Job, wegen Indiskretion.

Seit ihr Online-Chefposten sie auch außerhalb der Blogosphäre bekannt gemacht hat, sind es nicht mehr 5.000, sondern 10.000 Leser: Versicherungsangestellte, Unternehmensberater, Redakteure. Man kann das zurückverfolgen, von wo aus ungefähr ihre Seite angesurft wurde und wann. „Für die meisten bin ich ein nettes Mittagspausen-Entertainment“, sagt Borchert.

Auch Ralf Alberts Zugriffszahlen sind gestiegen. Von 200 auf 600. Wegen der Causa Borchert. Mit der WAZ hat er eigentlich nichts zu tun; er ist einer von denen, die sich auf ihren eigenen Blogs an der neuen WAZ-Onlinechefin abarbeiten. Dadurch ist er wahrgenommen worden von anderen. Sie haben ihn verlinkt. „Da bist du wer“, sagt Albert.

„Viele sagen, das Bloggen ist ein Ventil“, sagt er. „Da kannste richtig Dampf ablassen. Und das mach ich dann auch.“

Erst heute Morgen hat er sich wieder aufgeregt. Unter wazsolls.blognic.net bloggt anonym jemand gegen Katharina Borchert an. Ein WAZ-Angestellter. Warum er das anonym mache, wollte jemand wissen. Und Borchert hat geschrieben: Er könne doch mal zu ihr ins Büro kommen und mit ihr reden. Jaja, hat Albert gedacht, damit der eins auf den Deckel bekommt. „Da hab ich nochmal nachgetreten.“

Er hat noch einmal alles zusammengeschrieben, Thema WAZ: Da wird großes Internet-Trara mit Lyssa gemacht. Und währenddessen macht die WAZ sieben Lokalredaktionen dicht. Die Leute haben Angst um ihren Job. Er kennt ein paar von denen. Dieser profitorientierte WAZ-Konzern, der Volontäre unter Tarif bezahlt. Er hat das noch einmal alles vermengt, wie er das schon öfter alles vermengt hat: die Borchert, die Entlassungen, die doofen Blogs auf WAZ.de. Als er es auf seine Seite „Tom’s Diner“ stellen wollte, hat er aber gedacht: „Irgendwie ist das unfair.“ Es könnte ja auch ganz anders gemeint sein, was Katharina Borchert da geschrieben hat. „Da war ja auch ein Smiley dabei.“ Der Dampf war außerdem raus. Also hat er es diesmal unveröffentlicht gelassen.

Er hatte oft genug gewettert gegen die Peitschen-Borchert. Ralf Albert hat einmal ein Bild von ihr gesehen, auf einer Blogger-Lesung: lange schwarze Haare, streng nach hinten, zum Zopf, dunkles Brillengestell. „Sieht doch aus wie ’ne SM-Gaby“, kichert er. Da kam das her: „Peitschen-Borchert“. Katharina Borchert hat sich den Namen auf ein T-Shirt drucken lassen. Im Verlagshaus hat sie es noch nicht getragen. Da trägt sie Hosenanzüge, grau, mit Streifen.

Manchmal ruft sie einen Freund an, beschimpft ihn stellvertretend und schreit in den Hörer

Ralf Albert hat auch die Sache mit Papa Borchert geschrieben. Katharina Borchert ist nicht nur Online-Chefredakteurin, sie ist jetzt auch wieder Landwirtschaftsministertochter. Obwohl ihr Vater Jochen schon lange kein CDU-Minister mehr ist, sondern ein gewöhnlicher Bundestagsabgeordneter. Obwohl sie über dreißig ist und damit nicht mehr in erster Linie das Kind von irgendjemandem. Aber sie entkommt dem nicht. Wenn sie in der Schule gute Noten in Politik hatte, hieß es: „Na klar, bei dem Papa.“ Wenn sie schlechte Noten schrieb, sagten die Lehrer: „Das können Sie Ihrem Vater doch nicht antun.“ Sie ist nach dem Abitur sofort ausgezogen von zuhause. Zum Jurastudium nach Hamburg. Vorher: Entwicklungshilfe in Afrika. Sie hat ernsthaft überlegt auszuwandern. Aber dann hat sie irgendwann am Grenzübergang zu Angola gewartet und währenddessen an einem VW-Bus eine Wahlkampfkarikatur entdeckt, einen Aufkleber, von ihrem Vater. Da wusste sie: Ich muss das irgendwie anders regeln.

Ihr Blog hat sie deshalb anonym begonnen – als Lyssa. Und sie hat nicht über Politisches geschrieben, nur über Privates: „Ich wollte etwas machen, wo man nicht wieder diese bescheuerte Verbindung zieht.“ Zuerst hat sie der Betreiber eines Stadtportals entdeckt, der wollte eine Kolumne haben, eine Sexkolumne. Daraus wurde Stadtgeflysster. Lyssa schrieb etwa, dass Männer sich gefälligst die Mühe machen sollen, nach ihrer Klitoris zu suchen. Sie hat die Texte nicht aus dem Netz genommen, als sie Onlinechefin wurde. Mit der Zeit kamen immer mehr Anfragen, nicht nur von Stadtportalen, auch von renommierten Zeitungen, von Verlagen. Borchert hat einen Roman geschrieben, der bald bei Rowohlt erscheint.

Einige Wochen vor ihrem Amtsantritt in Essen war sie als Blogberaterin im Kanzleramt. Angela Merkel hatte ein Videoblog gestartet. Katharina Borchert sollte die Kanzlerin für eine Videoblogger-Seite interviewen. Sie hatte etliche Fragen vorbereitet. „War es Merkels eigene Idee? Warum kostet das so viel?“ Aber Merkel war vom vielen Gesundheitsreformverhandeln erschöpft. Sie wollte nur reden, ohne Kamera.

Die designierte Onlinechefin erklärte der Kanzlerin, dass Videobloggen etwas sehr Spontanes sein kann, ganz anders als Fernsehen. Dass das bei Merkel aber nicht ganz so spontan rüberkomme, eher wie eine Ansprache. Man könnte den Leuten doch einfach mal zeigen, wo die Kanzlerin regiert, wie es da aussieht. Vielleicht interessieren sie sich dann auch für das, was sie macht. „Also gut“, hat Merkel gesagt und ist aufgesprungen. „Dann machen wir das mal. Kamera läuft?“ Auf dem Video, das anschließend im Netz veröffentlicht wurde, führt die Kanzlerin durchs Büro: „Da ein Bild von Kokoschka. Hier ein bisschen Gemüse. Dies mein Telefon.“ Merkel menschelt kontrolliert. Neben ihr hält eine Frau ein Mikrofon. Auf eine etwas merkwürdige Art, sehr witzig das alles. „Ich hab die ganze Zeit gedacht: Boa, ist das schräg“, erinnert sich Borchert. Man sieht das.

In „Lyssas Lounge“ erzählt sie die ganze Geschichte noch einmal: Wie aus einem geplanten Interview ein Videoblogexperiment wurde, das nun bitte niemand als Interview verstehen möge. Viele Blogger haben dann geschrieben, journalistisch betrachtet sei das ein sehr schlechtes Interview. Da musste Katharina Borchert wieder tief durchatmen.