Nachrichten für einen Toten

SCHAUBÜHNE Die Performance „33 rpm and a few seconds“ von Rabih Mroué und Lina Saneh überzeugt auf dem Festival Internationaler Neuer Dramatik mehr als eine Dramatisierung des Romans „2666“ von Roberto Bolaño

Die Nachricht vom Selbstmord löst einen Orkan an Interpretationen aus

VON TOM MUSTROPH

Die „Neue Dramatik“ ist dank des Festivals F.I.N.D. tatsächlich in der Schaubühne angekommen. Nur ein Faxgerät, ein Anrufbeantworter, ein Computermonitor sowie ein Plattenspieler sind die Protagonisten der Absenz-Performance „33 rpm and a few seconds“ des Beiruter Künstlerpaars Rabih Mroué und Lina Saneh. Auf dem Anrufbeantworter gehen Nachrichten für den abwesenden Theatermann Diyaa Yamout ein. Auf der Projektionsleinwand erscheinen SMS einer Frau, die ihren verspäteten Abflug von London ankündigt.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Adressat ihrer Nachrichten allerdings bereits tot. Dies erfährt man von der Facebook-Seite Yamouts. Auf ihr tobt nach der Nachricht vom mutmaßlichen Selbstmord ein Orkan an Interpretationen, Zuschreibungen und medialen Aktivitäten. War es ein Suizid aus persönlichen Gründen? Oder wollte Yamout, immerhin ein linker Aktivist, ein Fanal setzen und einen Aufstand auslösen, wie er der Selbstverbrennung des Tunesier Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 folgte? Für diese These spricht, dass Yamout seinen Tod per Kamera dokumentierte – erste Voraussetzung für eine virale Wirkung in den sozialen Netzwerken.

Die Debatte, warum der Mobilisierungseffekt im Libanon nicht erfolgreich war, führen Mroué und Saneh aber nicht. Das mag daran liegen, dass sie selbst einen Schleier über die Ereignisse legen. In Interviews erklären sie, das Schicksal eines libanesischen Menschenrechtsaktivisten sei Vorbild für das Stück; sie nennen aber keine Namen. Die aktuelle Facebook-Seite für Diyaa Yamout wurde erst nach dem kolportierten Todesdatum eingerichtet. Die Anzahl der friends liegt deutlich unter den mehr als 4.500, die die Projektionen in der Performance angeben. Dass möglicherweise nicht wahr ist, was die Facebook-Projektionen suggerieren, nimmt der Performance aber keine Kraft. Das Absenztheater ohne Menschen, nur mit den technischen Spuren ihrer Existenz, ist ein reizvolles Format für darstellende Künstler auf der Suche nach Ausdrucksformen für die digital angereicherte Realität.

Zu staunen bleibt nur, dass diese Produktion aus dem Jahre 2012 erst jetzt – nach zahlreichen Stationen in ganz Europa – den Weg nach Berlin fand. Ursache mag sein, dass es wegen des Repertoirebetriebs der großen Häuser und der Unterfinanzierung der freien Szene keine angemessen ausgestatteten Einlader gibt; der Schaubühne gelang dieses Gastspiel auch nur dank der Plattform des Festivals.

Das erweist sich mit seinem internationalen Programm als echter Magnet. Spanische, arabische, englische, französische und russische Wortfetzen sind im Zuschauerraum zu vernehmen. Leider konnten andere Produktionen bislang nicht mit der künstlerischen Reife von „33 rpm“ mithalten. Die Dauerinstallation „Meat“ vom früheren Signa-Szenografen Thomas Bo Nilsson ist ein zwar aufwendiger und liebevoll gestalteter, performativ aber müder Versuch, das Umfeld des mutmaßlichen Mörders und Kannibalen Luka Rocco Magnotta nachzustellen.

Überhoben hat sich die Schaubühne selbst an der Theatralisierung des Mammutromans „2666“ von Roberto Bolaño. Dessen zentralem Thema der sexuellen Gewalt weicht die Inszenierung aus. Regisseur Alex Rigola lässt seinen Bühnenbildner Max Glaenzel zwar einen sehr attraktiven Tatort in der Wüste Nordmexikos aufbauen. Betont gelangweilt stolzieren auch die männlichen Ermittler um den toten – und später zu erinnyenartigem Gesang ansetzenden – Frauenkörper. Dass dieser Körper aber zuvor „zwei- oder dreikanalig“, wie Bolaño schreibt, missbraucht wurde, spielt keine Rolle.

Unverständlicherweise verlässt Rigola kurz darauf auch den fiktionalen Boden Bolaños und blendet statt der vielen Toten aus dem Buch die Namen real ermordeter Frauen aus Ciudad Juárez, dem Vorbild für Bolaños literarischen Ereignisort Santa Teresa, ein.

Das ist eindrucksvoll und gerät auch zu einer bewegenden Trauermesse. Warum Rigola diese echten Toten dann aber beleidigt, indem er während des weiteren Herunterscrollens ihrer Namen die Darsteller frauenfeindliche Witze erzählen lässt – alle aus dem Textkorpus des Romans –, bleibt rätselhaft. Wieder einmal zeigt sich, dass Ideen, die bei einer szenischen Lesung noch überzeugen – etwa bei Rigolas Erstversuch an „2666“ vor einigen Jahren –, der großformatigen Umsetzung nicht unbedingt standhalten.

Das immerhin ist auch eine Erkenntnis, die man bei den Formatexperimenten von F.I.N.D. gewinnen kann.

■ F.I.N.D. läuft noch bis 13. April, mit Gastspielen aus Spanien und Mexiko am Mittwoch und Donnerstag, aus Russland und Chile Freitag und Samstag. Am Samstag gibt es um 16 Uhr ein Werkstattgespräch mit Milo Rau und um 23 Uhr eine Party mit DJ Lars Eidinger.